Engagierte Neutralität

Henning Köhler

Maßgebliche Kreise der EU und der Nato wiederum gießen ständig Öl ins Feuer. Unsinnige Sanktionen werden verhängt – unsinnig deshalb, weil sie bei der Bevölkerung einen Solidaritätseffekt mit Putin auslösen und weil arme Menschen unter ihnen leiden, nicht die Eliten.

Eine neue Aufrüstungsspirale droht. Die kalten Krieger des Westens, angeführt von US-Falken, schmähen diplomatische Bemühungen als unterlassene Hilfeleistung, während das Pro-Putin-Lager in solchen Bemühungen nur taktische Winkelzüge zwecks Ausdehnung des Nato-Einflussbereichs zu sehen vermag.

In vieler Hinsicht fühle ich mich an das Klima der 1970-80er Jahre erinnert. Verhärtete ideologische Fronten. Das »Gleichgewicht des Schreckens«. Die Politik der geostrategischen Einflusssphären. Unfassbare Geheimdienstmachenschaften auf beiden Seiten. Das moralisch schwer angeschlagene westliche System konkurrierte mit den Sozialismus-Perversionen des Ostens. Zur Zeit der großen Friedensdemonstrationen herrschte akute Kriegsgefahr. Es ging gerade noch einmal gut. Nicht weil der Nato-Doppelbeschluss, eine Ausgeburt des Abschreckungsprinzips, gegen alle Widerstände durchgesetzt wurde. Man muss die Dinge schon etwas tiefer betrachten: Zum Glück widerstanden genügend viele Menschen dem Lagerdenken, ließen sich auf keine Seite ziehen. Undogmatische Linke, ergraute Hippies, Grüne, gewaltfreie Anarchisten, Sozialliberale, Wertkonservative, nicht zu vergessen auch anthroposophische »Drei­gliederer« gehörten zu dieser wachsenden Koalition der Unbestechlichen. Sie formierte sich nach und nach auch jenseits des eisernen Vorhangs. So entstand ein Klima in Europa, das Schlimmstes verhütete. Trotz Doppelbeschluss.

Heute stehen Putin-Unterstützer gegen Putin-Hasser. Ist russisches Großmachtstreben an allem schuld? Oder die Nato-Expansionspolitik? Ein russischer Friedensaktivist brachte es in der Zeitschrift Graswurzelrevolution auf den Punkt: »Wenn skrupellose Machtcliquen gegeneinander antreten, sind wir in keiner Weise verpflichtet, Partei zu ergreifen.« Allen Putin-Verehrern sei zugerufen: Verfolgte Menschenrechtsaktivisten, Öko-Aktivisten, Friedensfreunde in Russland verdienen unsere Solidarität!

Putin ist ein Mann mit blutigen Händen, er führt gewiss nichts Gutes im Schilde. – Trotzdem ist die Politik des Westens gegenüber Russland ein anhaltendes Trauerspiel, und der kniefällige Pro-Amerikanismus, auf den uns die Leit­medien in Deutschland einschwören wollen, eine haarsträubend anachronistische Haltung.

Ich sagte gestern zu einem Jugendlichen, der mich auf das Thema ansprach: »Lass dich nicht in diesen Machtkampf hineinziehen. Es ist ein Kampf um unsere Seelen. Solidarisieren wir uns mit den Leidtragenden zynischer Politik, ganz gleich, wo sie leiden und mit welcher Begründung ihnen Leid zugefügt wird.« Einwände?