Jeder eine Gattung für sich

Henning Köhler

Auf drei Leserstimmen will ich kurz eingehen.

Aud Tauber erkennt sich selbst in der Beschreibung wieder, gibt jedoch zu bedenken, Hochsensibilität sei schon wieder so eine Kategorisierung, man solle doch die Menschen einfach nehmen, wie sie sind. Damit hat er Recht. Es ist problematisch, anhand einer gewissen Schnittmenge gemeinsamer Eigenschaften abweichende Gruppen zu definieren. Hier lauert die Gefahr typologisierender Verallgemeinerungen. Wer ihr erliegt, vergisst, dass »jeder Mensch, geistig gesehen, eine Gattung für sich ist« (Rudolf Steiner). Der heutige psychodiagnostische Betrieb lebt ja geradezu davon, Individualitäten hinter »Syndromen« verschwinden zu lassen. Und wir sind heute ganz allgemein sehr geneigt, unsere Mitmenschen in Schablonen einzuordnen. Nicht nur für Pädagogen und Therapeuten gilt: Je stärker das Auffassungsvermögen für die unverwechselbare geistig-seelische Gestalt des Einzelnen, desto geringer der Hang, Vergleiche anzustellen oder dem Vergleichbaren übertriebene Bedeutung beizumessen. Wir sollten nicht von Typen oder Syndromen sprechen, sondern von »Wesensähnlichkeitengruppen« mit hoher interindividueller Variabilität. Werden diese Gruppen rein phänomenologisch beschrieben, jenseits mängeldiagnostischer Etikettierungen, kann das eine Orientierungshilfe sein. Justin, 9 Jahre alt, meidet Blickkontakt. Man ist geneigt, daraus zu schließen, er nehme seine Mitmenschen zu wenig wahr. Wer über Hochsensibilität informiert ist, wird in Betracht ziehen, dass es sich genau umgekehrt verhalten könnte.

Judith Biberstein hält Hochsensibilität für ein psychologisches Konstrukt. Ich will das gar nicht bestreiten. Unter Konstrukten versteht man in der Wissenschaft begriffliche Annahmen, die geeignet sind, Beobachtetes aufeinander zu beziehen. Bewährt sich eine solche Annahme in der Lebenswirklichkeit, ist sie nützlich. Ob dies für Hochsensibilität gilt, überlassen wir am besten den Betroffenen.

Dorothee Riewaldt beanstandet den Passus: »Sie empfinden intensiv die Stimmungen anderer Menschen mit und kompensieren dies durch eine starke Introvertiertheit«. Sie stellt klar, dass es auch extravertierte Hochsensible gibt. Aufmerksame Leser kann man brauchen. Der Fehler liegt in diesem Fall beim Lektorat. Ursprünglich schrieb ich: »… kompensieren dies oft durch eine starke introversive Gegenbewegung«.

Da fällt mir ein: Tom Hodgkinson fordert in seinem Buch The Idler dazu auf, »Faulheit zu feiern und die westliche Arbeitsmoral zu attackieren«. Byung-Chul Han rät in dem Essay Duft der Zeit allen gestressten Mitmenschen, »die Kunst des Verweilens« wieder zu lernen, statt sich zum »animal laborans« abrichten zu lassen. Wenn man das zur Richtschnur der Pädagogik machen würde, hätten hochsensible Kinder (und überhaupt alle Kinder) nur halb so viele Probleme.