Kinder sind Ereigniszeit-Wesen

Henning Köhler

1952. Ein Mann irrt durch Afghanistans Hauptstadt Kabul und fragt überall nach seinem Bruder. Niemand kann ihm helfen. Er reist unverrichteter Dinge wieder ab, kommt im nächsten Jahr zurück, sucht auch diesmal ohne Erfolg. Das wiederholt sich mehrmals. Ein US-Diplomat hört davon, will dem Mann Hilfe anbieten. Dieser erklärt, er habe sich mit seinem Bruder in Kabul verabredet, ohne das Jahr festzulegen. Der Vorfall – überliefert von dem Kulturforscher Edward T. Hall – lässt ahnen, dass am Hindukusch in den letzten 50 Jahren buchstäblich zwei Welten aufeinander prallten.

Zwei junge Deutsche fahren durch eine ländliche Gegend in Indien. Das Auto streikt. Sie gehen zu Fuß weiter, rufen vom nächsten Dorf aus eine Autoreparaturwerkstatt an. »Wir kommen umgehend«, wird ihnen versichert. Es dauert achtzehn Stunden. Die jungen Leute beschweren sich, müssen aber feststellen, dass den Mechanikern ganz schleierhaft ist, was das Problem ist.

Die Bewohner der Andamanen-Inseln (indischer Ozean) benutzen einen Kalender, der sich an den Gerüchen der Bäume und Blumen orientiert. Den australischen Aborigines ist das Prinzip der linearen Zeit fremd. Für sie fließen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einer höheren Zeitebene zusammen: der Traumzeit. Die afrikanischen San (Kalahari-Wüste) kennen weder Kalender noch Uhr noch etwas Vergleichbares. Ihr Zeitmaß sind immer wiederkehrende Rituale.

Zeitforscher unterscheiden zwischen Uhrzeit-Kulturen und Ereigniszeit-Kulturen. In Ereigniszeit-Kulturen ist das Zeitmaß den Ereignissen untergeordnet. Ein Prozess beginnt, wenn es sich richtig anfühlt, und dauert so lange, wie er eben dauert. Uhrzeit-Kulturen zwingen die Ereignisse unter das Zeitmaß. Gespräche zum Beispiel beginnen und enden, wie es die Uhr gebietet. Das Situationsgespür verkümmert, kreative wie auch soziale Prozesse erfahren eine künstliche Limitierung. In Ereigniszeitkulturen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und Erschöpfungszustände überaus selten. Wo noch gilt, dass »gut Ding will Weile haben«, situative Flexibilität möglich ist und dennoch zuverlässig wiederkehrende, seelenvolle Rituale den Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreslauf durchziehen, kann der Atem ruhig strömen. Ereigniszeit-Kultur stärkt das rhythmische System.

Kinder sind Ereigniszeit-Wesen! Zu früh und zu rigide nötigen wir ihnen den mechanischen Zeittakt auf. Unter salutogenetischen Gesichtspunkten liegt hier ein nicht zu vernachlässigendes Problem. Das schulische Leben etwa unterliegt gänzlich dem Diktat der Uhrzeit-Kultur. Mut zu neuen Wegen ist gefragt, um hier Abhilfe zu schaffen. Nicht Zeit-Maschinentakt, sondern fließende, gleichwohl im Fluss gestaltete Zeit … wie kommen wir dem näher?

Literatur:

Robert Levine: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen, GEO-Kompakt Nr. 27: Das Rätsel Zeit Abenteuer Philosophie, 1/13, Herzklopfen. Warum es regelmäßig unregelmäßig sein muss