Nur keine Systemkritik

Henning Köhler

Ich greife zwei Beispiele heraus. Die Welt am Sonntag (7.9.14) befasste sich mit der kollektiven Zwangsvorstellung, Kinder müssten nach Strich und Faden ›gefördert‹ werden – vor allem solche, die sich nicht ganz stromlinienförmig entwickeln. Eine ganze Industrie lebt inzwischen davon, Anpassung an fragwürdige Verhaltens- und Leistungsnormen sicherzustellen. Kinder werden zunehmend als Mängelwesen wahrgenommen. Allzu oft liefert das hübsche Wort ›Förderung‹ nur eine Scheinrechtfertigung für unduldsames Einschreiten gegen jedwede Schwäche, jedwedes Versagen (oder was man dafür hält). Eltern, Erzieher und Lehrer erwarten von Kindern »immer stärker ein konformes Verhalten. Die Toleranz gegenüber vermeintlichen Auffälligkeiten wird geringer«, klagt sogar Mathias Alber, Mitautor der traditionell eher schönfärberischen Shell-Jugendstudie.

Die ZEIT (11.9.14) titelte: »›Wir sind keine Sorgenkinder‹. Die Lüge vom gestörten Kind.« In dem Essay wird vor allem Michael Winterhoff, Psychiater, Bestsellerautor und Rundumschlag-Diagnostiker (70 Prozent aller Kinder seien narzisstisch gestört), endlich mal vor großem Publikum scharf gerügt. Den Titel »Thilo Sarrazin der Erziehung« hat er sich redlich verdient. Allerdings argumentiert Martin Spiewack, Autor des Artikels, seltsam widersprüchlich, indem er einerseits jedwede Besorgnis über die Lage der heutigen Kinder als Katastrophismus abtut, andererseits seiner eigenen Besorgnis (über verbreitete negative Einstellungen zu Kindern) vehement Ausdruck verleiht. Etwas mehr gedankliche Stringenz hätte man sich gewünscht. Trotzdem: Unbedingt lesen!

»Seit Jahren fragen sich Politiker, wie um Himmels Willen man die Deutschen zum Kinderkriegen motivieren könne«, schreibt Spiewack. Sein Vorschlag: »Hören wir einfach auf, die Kinder und das Leben mit ihnen schlechtzureden.« Denn »niemand holt sich eine Katastrophe ins Haus. Niemand teilt gern sein Leben mit Tyrannen«. Christian Fricke, Kinderarzt, äußerte gegenüber der Welt am Sonntag, die »Fixierung auf Defizite« bleibe nicht ohne »Nebenwirkungen«. Immer mehr Kinder hätten das Gefühl: »Irgendetwas stimmt nicht mit mir«, und oft entstünden erst daraus psychische Probleme.

Für den ganzen Schlamassel vor allem die Eltern verantwortlich zu machen, wie es in dem Artikel der Welt am Sonntag geschieht, ist freilich ungerecht und falsch. In ihrem Buch Die Angst vor dem kleinen Tyrannen. Eine Geschichte der Pädagogik im 20. Jahrhundert bemerkt Miriam Gebhard, »die Klage der Fachleute über die Unfähigkeit der Eltern (…) müsste eigentlich als Erstes auf jene selbst zurückfallen«. Im Übrigen stehen auch die Lohnschreiber bei WELT und ZEIT unter dem Konformitätsdruck, der auf Kindern und Eltern lastet. Man bemerkt es daran, dass gesellschaftliche Probleme auf individuelles Versagen reduziert werden. Systemkritik kommt nicht in Frage.