Postnatale Euthanasie-Kandidaten

Henning Köhler

1979 erschien das viel diskutierte Buch »Praktische Ethik« des australischen Philosophen und Tierschutzaktivisten Peter Singer. Hans Müller-Wiedemann (†), mein verehrter Lehrer, schrieb mir, dem jungen Heilpädagogen, drei Jahre später einen tief traurigen, aber auch kämpferischen Brief über dieses Pamphlet. Hier sei etwas losgetreten worden, worüber man sich noch wundern werde. Wir müssten mit allen Mitteln des Geistes dagegen angehen.

Singer hält es für gerechtfertigt, schwer behinderte oder unheilbar kranke Kleinkinder zu töten, weil es seiner Meinung nach barmherzig ist, ein absehbar qualvolles Leben im Keim zu ersticken. Außerdem seien viele Eltern hoffnungslos überfordert mit solchen Kindern. Schließlich entstünden der Solidargemeinschaft inakzeptable Kosten. Das dahinter stehende ethische Konzept heißt Präferenz-Utilitarismus und besagt, entscheidend sei vor allem die Frage, was dem Gesamtwohl diene. Allzu viele Ballastexistenzen könne sich eine Gesellschaft nicht leisten. Ziel müsse die Vergrößerung der Summe des Glücks sein. Glück wird als Leidensfreiheit definiert. Man findet in dem Buch Kriterien zur Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben. Wenn ein unheilbar kranker Mensch nicht mehr als Person identifiziert werden kann, verliert er nach Singer den Status des Rechtssubjekts, woraus folgt, dass seine Beseitigung kein Verbrechen ist. Merkmale einer Person seien: Selbstbewusstsein, Autonomie, lebensgeschichtliche Identität, Wünsche für die Zukunft. Schwerstbehinderte, Demenzkranke, Komapatienten, aber auch Kinder in den ersten Lebensmonaten müssten demnach als Nichtpersonen eingestuft werden und stünden auf der Liste potenzieller Euthanasie-Kandidaten.

Am 2. März 2012 meldet FOCUS-Online: Forscher recht-fertigen Tötung Neugeborener. »Babys seien noch keine ›wirklichen Personen‹, sondern nur ›mögliche Personen‹, argumentieren Alberto Giubilini und Francesca Minerva im Fachmagazin Journal of Medical Ethics. … Die Autoren setzen Neugeborene und Föten gleich. Beiden fehle das ›moralische Recht auf Leben‹. Ein Baby habe genau wie ein Fötus noch keinen ›moralischen Status als Person‹. Eltern sollten das Leben ihres Babys beenden lassen dürfen, wenn sie sich überfordert fühlen und ›wirtschaftliche, soziale oder psychologische Umstände‹ es ihnen unmöglich machen, sich um ihr Kind zu kümmern.« Erwähnt werden ausdrücklich auch die finanziellen Belastungen der Gesellschaft. Vor allem das Problem mit dem Down-Syndrom sei wegen fehlerhafter pränataler Diagnostik nun postnatal anzugehen.

33 Jahre nach Singers Vorstoß scheint die Kampagne in eine neue Phase einzutreten. Guibilini und Minerva versuchen nicht mehr den Anschein zu erwecken, sie grübelten über tragische Grenzfälle nach. Ihre Botschaft ist unzweideutig:

Hallo, all ihr überforderten, sozial benachteiligten, von Existenzsorgen geplagten, psychisch angeknacksten Eltern, auf Unterstützung könnt ihr nicht mehr hoffen, aber vielleicht besteht bald die Möglichkeit, den lästigen und kostspieligen Nachwuchs straflos einschläfern zu lassen …