Sozial und antisozial

Henning Köhler

Der Versuch, das sozialdarwinistische Menschenbild zu korrigieren, ohne den physiologischen Reduktionismus aufzugeben, ist aller Ehren wert. Doch ein nüchterner Blick auf die sozialen Realitäten scheint eher das Theorem vom einprogrammierten Egoismus (Richard Dawkins) zu bestätigen. Obwohl sich in unserer hochkomplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft staunenswerte kooperative Funktionsmechanismen herausgebildet haben, bestimmen Rivalität und Eigennutz mit steigender Tendenz das menschliche Zusammenleben. Schon Steiner warf die Frage auf, warum »wir auf der einen Seite den Schrei nach Sozialität haben und auf der anderen Seite immer mehr und mehr das Einreißen des reinen antisoziales Triebes«. Der Mensch, bemerkte er dazu, müsse aufhören, »sich selbst so furchtbar gern zu haben«.

»Einfältig« nannte er den Standpunkt: »Nun ja, wir haben beim Tier die Anfänge von sozialen Instinkten, die entwickeln sich im Menschen zur Moralität.« Steiners Entgegnung: »Was soziale Instinkte bei den Tieren sind, das wird, zum Menschen heraufgehoben, antisozial.«

Tatsächlich bieten ›blinde‹ soziale Reaktionsmuster nicht nur keine Gewähr für sozialen Fortschritt, sondern behindern ihn eher. Denken wir nur an sogenannte Gruppenegoismen, in denen das prä-individuelle Stadium menschlicher Gemeinschafts­bildung fortlebt. Wie viel Inhumanität erwächst daraus! Und Empathie, für sich genommen – als rein instinktiver Vorgang –, birgt die Gefahr eines heillosen emotionalen Durcheinanders. Daran scheitert vieles im sozialen Leben. Bei Kindern führt hohe unwillkürliche Empathie oft zu aggressivem Verhalten oder Kontaktarmut. Einfühlung kann Angst, Ekel und Abwehr hervorrufen, wenn sie nicht aus dem Schattenreich der blinden Affekte in die lichtere Region des erkennenden Fühlens heraufgehoben wird und sich mit Wertorientierungen verbindet, zu denen wir nur geistig Zugang finden. Man vergesse nicht: Soziopathen sind auf ihre Weise Empathie-Giganten! Sie benutzen aber dieses Vermögen skrupellos zu Manipulationszwecken.

Wie kommen wir also zu einer ethischen Haltung jenseits aller Getriebenheiten, ob sie nun mehr zum Egoistischen oder mehr zum Sozialen hin tendieren? (Tiere nehmen keine Haltung zu irgendetwas ein. Sie reagieren.) Laut Steiner hängt unendlich viel davon ab, »am Menschen das imaginative Vermögen zu entwickeln«. Hier sei »ein Lebensgeheimnis verborgen«, welches »auch in die Kinder- und Schulpädagogik einfließen« müsse. Darüber wird noch zu sprechen sein.

Literatur:

Rudolf Steiner (hrsg. v. Andreas Neider): Interesse am anderen Menschen, Stuttgart 2006

Sieha auch die Kolumne vom Oktober 2012