Soziales Verhalten kann man nicht antrainieren

Henning Köhler

Ja aber … Kinder brauchen Grenzen! Ja aber … sie müssen auch lernen, sich einzufügen! Ja aber…  wenn jeder macht, was er will, bricht Chaos aus! Ja aber … Kinder sind egozentrisch, sie wissen mit Freiheit gar nicht umzugehen! Ja aber … man muss ihnen erst einmal beibringen, auf die Bedürfnisse Anderer Rücksicht zu nehmen! ... Wer dauernd solche Sätze von sich gibt, gerät in die Gefangenschaft des Abers, während das Ja nur noch Formsache ist. Wenn Steiner hingegen Freiheit sagt, meint er es auch so. Ohne tausend Relativierungen. Er fordert uns allerdings auf, die Dinge gründlich zu durchdenken.

Klärungsbedarf besteht etwa hinsichtlich des sozialen Lernens. Viele glauben, man müsse den Kindern Sozialkompetenz antrainieren. Gegen ihren Willen. Tatsächlich entwickelt sich Sozialkompetenz aber zwanglos – oder gar nicht. Was auf diesem Gebiet erzwungen werden kann, ist lediglich opportunes Verhalten.

In Steiners Philosophie der Freiheit heißt es: »Freiheit [ist] die menschliche Form, sittlich zu sein.« Sittliche Prinzipien »von außen« zu empfangen, mache uns unfrei. Den Quell der Moral in sich selbst zu finden und aus ihm zu schöpfen, sei hingegen ein profundes Freiheitserlebnis. Diesen schöpferischen Akt nennt Steiner moralische Intuition. Wir sind also dazu imstande, erstrebenswerte sozial-zwischenmenschliche Qualitäten durch »erkennendes Fühlen« (Edmund Husserl) unmittelbar zu erfassen. Selbstverständlich gilt das auch für Kinder.

Ihr Auffassungsvermögen für das Sittlich-Moralische ist rein intuitiv! Eben deshalb führt »verordnete Moral« zu nichts anderem als dem dunklen Drang, sie alsbald wieder loszuwerden.

Wie machen Kinder etwa mit der Qualität des Tröstens Bekanntschaft? Wie integrieren sie diese Geste in ihr Verhaltensrepertoire? Durch Belehrung? Durch Trost-Training? Ach wo! Mäxchen wird getröstet. Oder er erlebt mit, wie die Mutter ein Geschwisterkind tröstet. Der Vorgang berührt ihn tief. Er braucht keine Belehrung, um die Bedeutung des Geschehens zu verstehen, und wird bei passender Gelegenheit selbst als Tröster auftreten, und zwar mit sicherem Situationsgespür. Es ist, als hätte Mäxchen nur einen Anstoß gebraucht, um sich an etwas zu erinnern, was ihm längst bekannt war. Die Sache hängt allerdings davon ab, dass er authentische Szenen des Tröstens erlebt, im Unterschied zu vorgespiegelten.

So und nicht anders geschieht soziales Lernen. Ahmt das Kind mit tiefem Interesse und unmittelbar sinnentnehmend soziale Grundgesten nach, erfährt es sich als Freiheitswesen.