Verschleierte Macht

Henning Köhler

Die Jugendlichen hatten mit Politik nicht viel am Hut. Sie beriefen sich in Diskussionen auf das, was ihnen aus den TV-Nachrichten, bestenfalls aus der Tageszeitung bekannt war. Das heißt: Sie waren miserabel informiert, und ich konnte als Vater wenig dagegen ausrichten. Hätte ich ihnen meine Lektüre aufdrängen sollen?

Sie wussten nicht, wie schmal der Grat zwischen »Nachrichten« und Propaganda ist, dass international agierende PR-Agenturen im Auftrag von Regierungen gezielt die öffentliche Meinung beeinflussen, etwa zwecks Einstimmung auf ›humanitäre‹ Kriege. Sie wussten nichts von den Verflechtungen zwischen Terrororganisationen, Drogenkartellen, Großbanken und Geheimdiensten. Sie hatten kein Buch von Noam Chomsky, Naomi Klein, Jean Ziegler oder Arundhati Roy gelesen. Kurz: Die jungen Leute lebten in Illusionen. Aber sie begannen Fragen zu stellen. Und meine Not bestand darin, dass ich ihnen weder den Optimismus austreiben, noch die Wahrheit verschweigen wollte.

Der Ausweg bestand darin, dass ich es mir nicht nehmen ließ, die Dinge beim Namen zu nennen, aber zugleich Hoffnung vermitteln konnte. Denn es gab ja auch viel zu berichten von großartigen Menschen überall auf der Welt.

Es ist ein Kernproblem unserer Zeit, dass die Lüge im Kontext der Macht geadelt wird.

Nach herrschender Auffassung gehört Vertuschen, Verdrehen und Verschweigen ›naturgemäß‹ zum politischen Geschäft. Unser aller Sicherheit hänge davon ab, heißt es. Hochrangige Politiker äußerten zu den Wikileaks-Enthüllungen, dies dürfe keinesfalls Schule machen, es diene nur Terroristen und Schurkenstaaten. Anders ausgedrückt: Die üblen Machenschaften der Guten aufzudecken, ist böse, weil es den Bösen nützt. Ich weigere mich, Jugendliche mit dieser verkorksten Logik zu belästigen.

Wikileaks-Gründer Julian Assange hat Recht: Die Revolte des 21. Jahrhunderts wird eine Revolte der Transparenz sein. Findige Netzpiraten, darunter viele junge Leute, nutzen die neuen Medien, um das historische Ende der verschleierten Macht einzuleiten. Sie haben sich viel vorgenommen.

Vielleicht zu viel. Aber so ist das immer, wenn Neues beginnt. Slavoj Žižek schreibt in Lettre International: »Wir sehen uns einem schamlosen Zynismus der bestehenden globalen Ordnung gegenüber, deren Vertreter nur noch vorgeben, an ihre eigenen Ideen von Demokratie und Menschenrechten zu glauben. Durch die Enthüllungen von Wikileaks wird die Schmach (unsere Schmach, dass wir solche Macht über uns tolerieren) noch schmachvoller, indem man sie publiziert.«

Zum Aufbruch der Netzgeneration ist übrigens ein sensationell guter Roman erschienen: Little Brother von Cory Doctorow.