Krank und selbstbestimmt. Auf dem Weg zum kompetenten Patienten

Hans-Jürgen Schumacher

Woran mag es liegen, dass Patienten sich ihrer Macht so wenig bewusst sind? Vielleicht daran, dass sie keine fest umrissene Spezies von Menschen sind. Zum Patienten wird man durch ein besonderes Befinden oder eine besondere Situation, die ärztliche Hilfe erfordern und die es so schnell als möglich zu überwinden gilt.

Vielleicht liegt es aber auch an der Schwäche und der damit verbundenen Hilfsbedürftigkeit des Kranken, der aus eigenen Kräften nicht genesen kann und sich somit bereitwillig der Hilfe und Obhut des Arztes überlässt?

Oder daran, dass der heutige Mensch in blindem Glauben und grenzenlosem Vertrauen in die Werbung der pharmazeutischen Industrie schnell zum vielversprechenden Medikament greift, in der Hoffnung, schnell, ohne große Nebenwirkungen das Übel los zu werden.

Muss man krank sein, um Patient zu werden?

Potenziell ist jeder krank und somit Patient. Gesundheit ist ein labiler Zustand, der jederzeit in Krankheit übergehen kann.

Gesundheit und Krankheit sind keine Alternativen, zwischen denen wir selbst entscheiden können. Wir können sie allenfalls durch eine gesunde oder ungesunde Lebens­führung beeinflussen. Wie man Gesundheit fördern kann, hat die Salutogeneseforschung in jüngster Zeit auf überraschende und bahnbrechende Weise entdeckt. Sprechen wir vom Patienten, so sprechen wir auch immer vom Gesunden, denn dieser trägt die Disposition zur Krankheit jederzeit in sich und umgekehrt.

Fragen nach der Selbstbestimmung, der Autonomie des Patienten betreffen demnach – unabhängig vom aktuellen Befinden – jeden von uns.

Vom bevormundeten zum kompetenten Patienten

Das Patientenbewusstsein hat sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts stetig weiterentwickelt. Wir können von einer Emanzipation des Patienten im Gesundheitswesen sprechen. Der Weg reicht von der totalen Bevormundung über den autonomen Patienten bis zum kompetenten Patienten.

Gerd Nagel, emeritierter Professor der Onkologie und selbst einst von einer Krebserkrankung betroffen, beschreibt in seinem Buch Was kann ich selbst für mich tun? diesen Weg.

Obgleich schon in der Antike und im Mittelalter berühmte Ärzte wie Hippokrates und Paracelsus den Patienten aktiv in den Genesungsprozess einbeziehen wollten, ist die selbstverantwortliche Mitwirkung im Zuge der Entwicklung der Medizin vom Heilberuf zur Wissenschaft ver­loren gegangen.

Seltsam mag es heute anmuten, wenn wir hören, dass es in den Kliniken 1960 noch üblich war, dem Patienten Krebsdiagnosen zu verschweigen, und dass Briefe mit Berichten an den ärztlichen Kollegen vom Patienten nicht geöffnet werden durften. Der Patient galt also noch vor fünfzig Jahren als unmündig und wurde dementsprechend be­handelt. Wir können mit Nagel vom bevormundeten Patienten sprechen.

In den 1970er Jahren vollzog sich ein Wandel. Patienten wurden zunächst allgemein und mit der Zeit  immer detaillierter über Art, Umfang und Konsequenzen einer Krankheit oder eines medizinischen Eingriffes informiert. Der Patient musste per Unterschrift sein Einverständnis zu entsprechenden Maßnahmen erklären. Der informierte Patient war geboren.

In den folgenden Jahren entwickelte sich  ein Bewusstsein für Patientenrechte. Es formierten sich Selbsthilfegruppen, die ihre Interessen gegenüber dem Gesetzgeber und den Kassen vertraten. Aus dem informierten Patienten wurde der rechtsbewusste mündige Patient.

Organisiert in Verbänden trat der Patient in den neunziger Jahren noch einen Schritt weiter aus seiner passiven Rolle heraus. Sein Informationsbedürfnis wuchs und er wollte auf der Basis einer guten ärztlichen Beratung mitentscheiden. Seit 1990 kann man vom autonomen Patienten sprechen.

Standen von 1960 bis 2000 die Beziehungen zum Arzt, zur Rechtsprechung, zur Politik und zu den Krankenkassen im Vordergrund, so setzte ab 2000 eine gänzlich neue Entwicklung ein, die schließlich zum kompetenten Patienten führte.

Neu ist nun, dass der Patient sich selbst in den Mittelpunkt des Interesses rückt und, neugierig geworden, fragt, welche Rolle er im Umgang mit seiner Krankheit spielen will und kann.

An dieser Entwicklung wird deutlich, dass die beschriebenen Stufen der Bewusstseinsveränderung nicht mit anderen, gleichzeitig ablaufenden Entwicklungen des modernen Menschen Schritt halten konnten. Denn bis heute prägen »archaische« Haltungen die Arzt-Patientenbeziehung und führen auf beiden Seiten zu Verhaltensmustern, die den therapeutischen Erfolg stark beeinträchtigen können.

Über welche Fähigkeiten verfügt ein kompetenter Patient?

Anthroposophische Medizin fasst Krankheit als Weg auf, als ein mit der eigenen Biografie verknüpftes schicksalhaftes Ereignis. Sie kann beim Menschen zu tiefgreifenden, inneren und äußeren Lebensveränderungen führen. Kompetenz muss gerade jene Qualitäten umfassen, die den Patienten befähigen, den Krankheitsprozess als inneres Entwicklungsgeschehen bewusst zu ergreifen. Dazu gehört, neben dem Bemühen um ein erweitertes Krankheitsverständnis, die Bereitschaft, offen auf sich selbst zuzugehen und Veränderungen zuzulassen.

Auf dem Weg zur eigenen Kompetenz

Auch wenn der zuvor umrissene Begriff der Patientenkompetenz ein Ideal umschreiben mag, ist er dennoch richtungsweisend und motivierend für uns – ob gesund oder krank. Die Beschäftigung mit diesen Gedanken kann uns wach machen für ein bestimmtes Rollenverhalten und zu einem  autonomen und verantwortungsvollen Verhalten führen.

Kompetenz fängt da an, wo wir in unserem Handeln nicht mehr gängigen Verhaltensmustern folgen, deren Regeln wir nicht durchschauen, sondern im bewussten Durchleben eines inneren Geschehens selbst Entscheidungen treffen.

Patientenkompetenz hat dort ihre Grenzen, wo wir, geschwächt von Krankheit und hilfsbedürftig, nur eingeschränkt handlungsfähig sind und notgedrungen passiv bleiben müssen.

Aber auch da, wo wir internalisierten Handlungsmustern folgen und uns entsprechend angepasst verhalten, kommt die Patientenkompetenz nicht zum Zuge. Kompetenz, im Sinne einer Übernahme der Eigenverantwortung für sich und seine Krankheit, fordert ein hohes Maß an Geistesgegenwart. Wo diese Autonomie, wie in den beiden erwähnten Fällen, Einschränkungen erfährt, ist der vertraute Angehörige und Freund als Weggefährte gefragt.

Das Wissen, eine schwere Erkrankung zu haben, erschüttert im ersten Augenblick die Basis unseres bisherigen Lebens. Tief verunsichert und häufig in Panik lassen wir uns oft nicht genügend Zeit, bis die ersten Wogen verebbt sind und die ruhige Überschau einsetzen kann. Nagel beschreibt eindrücklich, wie er sich nach seiner Krebs­diagnose zunächst einmal in die Einsamkeit zurückzog, um die neue Realität innerlich verarbeiten zu können. Dieses Innehalten erzeugt, wie eine selbst verschriebene Zäsur, die nötige Ruhe, um die Erkrankung in einem erweiterten bio­grafischen Kontext sehen zu können. Nur so können dann individuelle Entscheidungen getroffen werden, wie der eigene Weg aus dem Vertrauen in die eigene Biografie fortgesetzt werden soll.

Im Anschluss kann eine mehr aktive Phase einsetzen, die, von Eigeninitiative geprägt, sich aktiv um ein Verständnis der Krankheit bemüht. Dabei helfen die modernen Medien ebenso wie vertiefende Literatur, die über verschiedene Therapiekonzepte informieren.

Entscheidend ist schließlich die Konsultation eines Arztes, der über ein vertieftes Verständnis der Krankheit verfügt und bereit und offen ist, den Patienten auf seinem Weg als Gefährte zu begleiten. Eine professionell geführte Biografiearbeit kann helfen, die Krankheit in einem erweiterten Lichte zu sehen und zu verstehen. Ein Austausch in Selbsthilfegruppen wirkt der Isolierung entgegen, die eine Krankheit oft mit sich bringt. Mit rechtlichen Fragen, wie der Kostenübernahme und der Erstattung, besonders der nicht konventionellen Therapien, kann man sich an die örtlichen Patientenberatungsstellen oder die Hotline Anthroposophische Medizin wenden.

Der kompetente Patient braucht den kompetenten Arzt

Patientenkompetenz braucht zu ihrer Verwirklichung nicht nur den Patienten, sondern auch das Gegenüber – den Arzt. Der Patientenkompetenz muss demzufolge die Arzt­kompetenz zur Seite gestellt werden.

Für den Arzt gilt es, ein überholtes, paternalistisches Rollen­verhalten zu überwinden. Erst so wird er sich im helfenden Gespräch für die ihm gegenüber sitzende Persönlichkeit mit ihrer individuellen Biografie öffnen, um mit ihr gemeinsam die angemessene Therapie finden zu können. An die Stelle der ärztlichen Konsultation tritt die therapeutische Begegnung und Begleitung.

Diese benötigt jedoch neben der Empathie auf Seiten des Arztes auch ein Gesundheitswesen, das Arzt und Patient für diese sprechende Medizin genügend Raum und Zeit zur Verfügung stellt.

Die Kostenexplosion und die damit verbundenen Ein­sparungen haben in den letzten Jahre nicht nur zu einer drastischen Einschränkung dieser »Begegnungsmedizin« geführt, sondern uns auch die Nichterstattung anthroposophischer Medikamente und Therapien durch die Gesetz­lichen Krankenkassen beschert.

Patientenkompetenz erfordert unter diesen Bedingungen also auch das Engagement und den Einsatz des Bürgers für die Erweiterung und den Erhalt einer Medizin, die den individuellen Patienten in den Mittelpunkt stellt.

Der Patientenverband gesundheit aktiv setzt sich gesundheitspolitisch und in seiner Öffentlichkeitsarbeit seit über fünfzig Jahren für dieses Anliegen ein.

Zum Autor: Hans-Jürgen Schumacher, Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte, 24 Jahre tätig als Waldorflehrer, ist seit 2007 Geschäftsführer des Patientenverbandes »gesundheit aktiv«, anthroposophische heilkunst e.v. in Bad Liebenzell.

Hotline Anthroposophische Medizin:

Tel.: 0 18 03/30 50 55 (0,09 €/Min. aus dem Festnetz, Mobilfunk höchstens 0,42 €/Min.) Informationen unter: Tel. 0 70 52/93 01-0 oder www.gesundheitaktiv-heilkunst.de

Literatur:

M. Glöckler, E. Schiffer, J. Schürholz: Salutogenese. Wo liegen die Quellen leiblicher, seelischer und geistiger Gesundheit? gesundheit aktiv, Bad Liebenzell 2007

M. Glöckler: Wie entsteht Gesundheit? Zur Salutogeneforschung. Perspektiven und praktische Konsequenzen, Broschüre 177, gesundheit aktiv, Bad Liebenzell 2003

A. Bopp, D. Nagel, G. Nagel: Was kann ich selbst für mich tun? Patientenkompetenz in der modernen Medizin, Zürich 2005