Mut zur Verweigerung

Albert Vinzens

Wir können nicht alles haben, schon gar nicht alles zu jeder Zeit. Diese einfache Tatsache wird von unserer Gesellschaft ignoriert, und doch ist sie durch keine noch so geschickten Tricks zu umgehen. Zu viel Materie auf einem Haufen geht nicht, wir erleben es hautnah im Autostau oder nach Feierabend auf und vor dem Bahnhof. Dinge brauchen Raum zu ihrer Entfaltung, sonst blockieren sie sich gegenseitig. Ähnlich ist es mit der Zeit, sie braucht den Abstand zu sich selbst, damit nicht alles immer enger und unübersichtlicher, hektischer, kurzatmiger wird und ab einem gewissen Zeitpunkt krank macht. Der unsachgemäße Umgang mit Raum und Zeit hat Folgen im Leben. Darüber sprechen liberale Menschen und Eltern, die um das Wohlsein ihrer Kinder bemüht sind, ungern. Über fehlende Zeit und zu wenig Entfaltungsspielraum lassen sie lieber andere philosophieren. Wenn es nach ihnen ginge, wäre das Problem mit einem eleganten Hauruck vom Tisch.

Das genau bringt keinen Erfolg. G8 zum Beispiel – im Kopf ging alles schnell und einfach, doch die Gesundheit der Schüler streikte bald, das Zeitmanagement trat bei diesem ambitionierten Projekt über die Ufer. Um mithalten zu können, managten die Schüler ihre Schul- und Freizeit per Terminkalender, mit der Dauersorge kompletter Überanstrengung im Schlepptau. Die Lehre daraus lautet: Zeit lässt sich nicht beliebig kürzen und optimieren. Irgendwann ist die Luft raus, und plötzlich lassen sich überhaupt keine Räume mehr gestalten. Die klug ausgedachten Systeme brechen in sich zusammen. Die Rückkehr zu G9 ist zu einem teuren Preis erkauft worden.

Mehr Muße im Leben unserer Kinder wird nicht durch Optimierung von Raum und Zeit erreicht, sondern durch den Entschluss zu verzichten. Goethe hat dies Entsagung genannt. Das ist schwierig. Der supergute Schüler, der ein oder zwei Instrumente auf sehr gutem Niveau spielt, ein vielseitiges Sporttalent ist, täglich auf der Pferdekoppel trainiert und jeden zweiten Tag Ballett – das ist das Vorbild. Und wenn das alles nicht zusammengeht, dann muss ein soziales Hilfsnetz her, das von unten her die Defizite behebt mit Nachhilfestunden, Beschäftigungsangeboten, Lernangeboten für Sozialverhalten. Und dies in der Freizeit der Kinder.

Hinzu kommt, dass Kinder, ob sie nun überall zu den besten zählen oder ob sie in allem überfordert sind, nur ja nicht beschnitten werden dürfen in ihren technischen Vergnügungen. So mit den komplizierten Gegebenheiten unserer Schul-, Freizeit- und Digitalwelt umzugehen, funktioniert höchstens im Kopf von Erwachsenen. Wir sollten über solche Formen der Freizeitnutzung gar nicht mehr diskutieren und erst recht nicht davon träumen, dass es vielleicht doch irgendwie geht, Entspannung zu erreichen, ohne gewisse Dinge loszulassen und zu verabschieden.

Berühmte Leute haben es gesagt, und wir haben es in allen Variationen wiederholt, dass nämlich die Probleme unserer Zeit nicht mit den gleichen Gedanken gelöst werden können, die sie produziert haben. Diese Weisheit ist nicht mehr neu, aber wir denken noch immer nicht neu über sie nach. Genau das muss aber sein, sonst dreht sich die Spirale des Konsum- und Freizeitwahns immer weiter nach oben.

Nein zu sagen fällt schwer

Muss mein Kind überall mitreden? Nein. Muss jedes Mädchen das Schönste, jeder Junge der Coolste sein? Nein. Müssen wir jedes einzelne Kind wie einen Star behandeln? Nein. Natürlich wissen wir, dass nicht alle alles werden können, aber wir wollen, dass genau das möglich ist. Die Selfiekultur ist längst aus der Erwachsenenwelt in die der Kinder eingebrochen, bis ganz hinunter. Bereits die zwei- bis vierjährigen Kleinkinder hängen im Schnitt eine halbe Stunde pro Tag am Smartphone und üben den Tanz auf dem Eis der Eitelkeiten.

Und was sagen so und so viele Erwachsene dazu? So lange das mein Kind ist, da auf dem Foto, ist doch eigentlich alles okay. Es ist nicht so, dass Neinsager früher angenehmer aufgefallen sind als heute, aber heute ist ein Nein so etwas wie der erschreckende Ausdruck politischer Unkorrektheit – das erschwert die Sache erheblich. Weil man sich das nicht leisten kann, wird Ja gesagt. »Im Prinzip ja«, lautet das Elternmotto, »jetzt müssen wir nur noch zusehen, wie wir das Ja umsetzen.« Im Zweifelsfall immer Ja. Ja fällt leichter als Nein.

Und, auch wenn Eltern gerne mal über die fehlenden Cents in der Tasche klagen – wenn es um Ausgaben für ihre Kinder geht, auch völlig unnötige, verrückte Ausgaben, kennen ihre Geldbeutel fast keine Grenzen.

Produktiv untätig

Ich weiß nicht, wie ich auf das Buch von Hodgkinson reagiert hätte, als ich, Vater von vier Kinder, selbst bis über die Ohren mit Kindererziehung, Elternabenden, Überweisungen, Ferienplanung beschäftigt war. Tom Hodgkinsons Leitfaden für faule Eltern lautet im Originaltitel »The Idle Parent«. Die Anleitung zur Faulheit, die das Wort ›idle‹ bedeutet, kommt im deutschen Buchtitel zu einseitig zum Ausdruck. Im Englischen hat es außerdem die Bedeutung von »müßig« oder »produktiv untätig sein«. Tom Sawyer und Huckleberry Finn hatten, um ein denkbar weltfremdes, aber pädagogisch immer noch bedenkenswertes Beispiel zu nehmen, jede Menge Raum und Zeit, um von einer Mußestunde (idlehour) in die nächste zu gleiten. Tom Hodgkinson knüpft an diese vergessene und, wie sein Buch zeigt, dennoch weiterhin in unserer westlichen Welt praktizierbare Tradition an. Was die Kapitel versprechen, löst der Text auf witzige, liebevolle und immer auch ernsthafte Weise ein. Wir sollten den Kindern nicht sagen: Nutze Deine Freizeit. Das hat eine ähnliche Wirkung wie »sei spontan«. Hodgkinson wendet sich nirgends an die Kinder, sondern durchgehend an die Eltern, denn nur sie können den Hebel umlegen, der den Kindern wieder die Freizeit und damit das Nichtstun und die kreative Langeweile zurückgibt. Die Empfehlungen dieses Autors sind herb, haben aber einen verführerischen Reiz.

Alles, was er seinen Lesern ans Herz legt, lebt er selber vor. So hat er aufgehört, für gutes Gehalt den ganzen Tag mit fremdbestimmter Arbeit zuzubringen. Für die Kinder hat dies gleich zwei Vorteile: Erstens hat er seither kein übriges Geld, das er der Spielzeugindustrie für idiotisches Spielzeug geben könnte, zweitens hat er Zeit, um mit den Kindern Holz und Gerümpel in der Gegend zusammenzusuchen und damit zu basteln und zu werkeln. »Weg vom Bildschirm, auf in die Freiheit«, lautet ein Kapitel, oder: »Ein Nein zu Familienausflügen«. Hodgkinson schreibt vom Tao der Eltern und behauptet, nur Eltern, die nicht nach Perfektion strebten, seien gute Eltern. Mütter und Väter, die »idle« sind, sind gesellig, sie haben Zeit, lassen sich auf die Kinder ein, lassen sich ins Kinderzimmer entführen oder gehen mit ins Freie und auf Abenteuer. Sie sind eine Freude für die Nachbarschaft und haben weit weniger Probleme mit Hightech-Spielzeug und Computerkonsolen als die, die sich das alles leisten können.

Von den Extremen weg zur Mitte

Wem ein solches Buch zu simpel ist, dem empfehle ich Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Die erziehungswissenschaftlich einfachste aber durchaus präzise Lesemöglichkeit dieses Werks lässt sich folgendermaßen paraphrasieren: Nehmt Euch nicht so viel Zeit, um hoch­-intelligente Strategien eines effizienten Zeitmanagements für die Freizeit eurer Kinder auszutüfteln. So lange Ihr dies tut, hängt Ihr doch nur am Verstandespol fest und werdet vorzeitig verknöchern. Dies gilt auch, wenn Ihr ausschließlich das Schöne, Wertvolle, Besondere, Saubere für Eure Kinder wollt. Lasst Euch außerdem nicht so gehen, nehmt Eure Triebe in die Pflicht. Ihr müsst nicht jeder Seelenregung nachgehen, überall nach Schnäppchen Ausschau halten, dauernd das Neueste kaufen und jede Eurer Posen knipsen. Das eine macht euch zu Analphabeten im Fühlen, das andere zu Sklaven der Unruhe. Hier wie dort zerrinnt Euch die Zeit zwischen den Fingern, hier wie dort werden die Räume, wo Ihr etwas erlebt, immer kleiner. Und jetzt kommt der Zaubertrick, den bis heute niemand besser beschrieben hat als Schiller. Es geht darum, die Extreme zu verabschieden. Weder zu viel Rationalität noch zu viel Bedürfnisbefriedigung macht den Menschen aus. Es gibt eine Mitte dazwischen, wo man, ohne sich unwohl zu fühlen, einerseits liebevoll auf die Umsetzung einer Idee verzichten und andererseits ohne Frust auf die sinnliche Erfüllung eines Wunsches verzichten kann. In dieser Mitte lässt sich durchatmen, kommt Entspannung und Freude am Leben auf.

In dieser menschlichen Zone wird alles anders, verspielter, leichter, humoriger, geräumiger, ruhiger. Das ist eigenartigerweise ein schwerer Weg, aber einer, der uns das Gefühl für die Selbstgestaltung des Lebens zurückgibt, des eigenen und des Lebens unserer Kinder. Erwachsene, die in und aus dieser Zone leben, üben einen positiven Sog auf ihre Kinder aus.

Zum Autor: Albert Vinzens ist Autor und Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck für Anthropologie und Pädagogik.

Literatur: T. Hodgkinson: Anleitung zum Müßiggang, Berlin 2004 | A. Vinzens: Lass die Kinder spielen, Stuttgart 2011 | ders.: Spiel-Zeuge. Hommage an das Spiel, Klein Jasedow 2015