Ein gesunder Mensch wird dreimal geboren

Bernd Kalwitz

Wie wir erwachsen werden 

Stellen Sie sich einmal vor, Sie übernehmen die Filiale des Betriebs Ihrer Eltern mit dem Ziel, sich selbstständig zu machen. Zunächst läuft alles weiter wie zuvor. Doch dann bemerken Sie, wie der gesamte Betrieb nach dem Charakter Ihres Vaters und Ihrer Mutter eingerichtet ist und immer noch weitgehend nach deren Duktus abläuft. Das stört Sie mehr und mehr, und Sie machen sich schließlich daran, Schritt für Schritt alles umzugestalten, so dass es zu Ihnen selbst passt und auf Ihre eigenen Charaktereigenschaften zugeschnitten ist. Zunächst werden Sie die Räume und Gebäude nach Ihrem Geschmack umbauen. Dann nehmen Sie sich die Arbeitsabläufe vor und gestalten sie nach Ihren eigenen Vorstellungen. Anschließend widmen Sie sich der Teambildung, sorgen für ein Arbeitsklima, das Ihrem Wesen entspricht, gestalten die sozialen Prozesse nach Ihren Vorstellungen von Führung und Zusammenarbeit. Und schließlich durchdringen Sie das Ganze mit Ihren eigenen Zielvorstellungen, mit Ihren Leitideen, wohin der ganze Betrieb führen soll. Sie sorgen für eine Unternehmensidentität, die Ihren Stempel trägt und nicht mehr den Ihrer Eltern. So wird mit der Zeit äußerlich wie innerlich immer weniger an Ihre Eltern erinnern. Die haben sich in dieser Zeit wahrscheinlich auch noch nicht ganz zurückgezogen. Vielleicht übernehmen sie noch die Buchhaltung oder erledigen den Telefondienst, um Ihnen den Rücken während des Umbaus freizuhalten.

Ätherleib und Astralleib

Jede Kindheit ist davon bestimmt, dass unser innerer geistiger Wesenskern sich in einem Leib einrichten muss, der durch die Vererbung geprägt ist. Dabei verwandeln wir, wie inzwischen auch die Genetik zeigt, die ererbten Eigenschaften ganz grundlegend.

Bis zum siebten Lebensjahr sind wir mit all unseren Lebenskräften damit beschäftigt, unseren Körper aufzubauen und seine Architektur mit unserer Individualität zu durchdringen. Das nimmt uns ganz in Anspruch, und wir sind in dieser Zeit von einer kosmisch-geistigen Hülle davor geschützt, dass unsere Lebenskräfte von anderen Anforderungen in Anspruch genommen werden. Die Hüllenkräfte erledigen noch unsere »Buchhaltung« und sorgen dafür, dass der »Betrieb« trotz Renovierung weiterläuft. Erst wenn sich mit dem Zahnwechsel zeigt, dass die erste Phase der Umarbeitung geschafft ist, werfen wir diese Hülle ab und werden in der Ebene unserer Lebenskräfte wirklich frei. Rudolf Steiner spricht hier von der Geburt des »Ätherleibes«. Dann haben wir selbst Ressourcen für die »Verwaltungstätigkeiten« übrig: Wir können die Welt abstrakter Vorstellungen und Gedanken betreten und erforschen, ohne unsere Gesundheit zu gefährden.

Noch länger begleitet uns eine Hülle, die unsere Gefühlswelt schützt, solange wir in den folgenden sieben Jahren die Grundlagen unseres Seelenlebens aufbauen. Von ihr trennen wir uns etwa in unserem 14. Lebensjahr (Geburt des »Astralleibes«), und nun sind wir bereit für die Gefühlsstürme der Pubertät, die jetzt unsere Innenwelt durchtoben. Vorher waren wir vor dieser Emotionalität abgeschirmt, damit unsere innere Aufbauarbeit nicht gestört wurde. Unsere Eltern haben, im Bild gesprochen, die Prozesse noch selbst ein wenig am Laufen gehalten. Und noch einmal sieben Jahre später wird das in uns geboren, was einmal die Grundlage unserer Ich-Entwicklung abgeben kann.

Wie entscheidend wichtig diese Hüllen sind, zeigt sich, wenn sie zur Unzeit durchbrochen werden. Wenn abstrakte Denkvorgänge zu früh unsere Lebenskräfte beanspruchen, wird unsere leibliche Entwicklung gestört und bricht ab, bevor sie wirklich ausgereift ist. Wir haben keine Kraft mehr für einen grundlegenden Umbau, weil wir uns schon so intensiv mit der Verwaltung beschäftigen müssen. Wenn die Gefühlswelt zu früh sexualisiert wird, hat unsere Seele nicht die Ruhe, sich gesund zu entwickeln, und unsere Emotionalität kann sich dann nur auf eine mehr oder weniger unausgereifte Persönlichkeitsstruktur stützen. Die wird, zu früh ihres Schutzes beraubt, später im Leben nicht den angemessenen Respekt vor den Hüllen und Grenzen anderer Menschen entwickeln können.

Und wenn die Kraft unserer Jugendideale zu früh geweckt wird, droht sie im Fanatismus zu erstarren.

So verwandeln wir im Schutz dieser Hüllen unseren Leib zu einem Instrument, mit dem wir unsere ureigenen Impulse in die Welt tragen können. Dabei darf nichts Fremdes oder Mitgebrachtes ungeprüft übrigbleiben, nicht in unserem Körper und nicht in unserem Seelenleben.

Nichts darf unverwandelt bleiben

Von den Dingen, die Sie während der Umgestaltung Ihres Betriebes vorfinden, lassen Sie natürlich auch manches bestehen, wenn es in Ihr eigenes Konzept passt, aber nur, nachdem Sie es sorgfältig untersucht und geprüft haben. Denn wehe, Sie lassen etwas einfach unverwandelt bestehen, weil Sie es übersehen haben: Weil Sie es nicht sehen wollten oder zu bequem waren, sich damit zu beschäftigen! Irgendwann, vielleicht viel später, aber bestimmt irgendwann steht es Ihrem gesamten Betrieb im Weg. Irgendwann stoßen Sie sich daran, merken, dass es noch den Stempel Ihrer Eltern trägt, und selbst Kleinigkeiten beginnen Sie dann gewaltig zu stören, weil sie wie Fremdkörper alles behindern.

Und nun sind die Dinge nicht mehr so leicht umzugestalten wie vorher während der allgemeinen Umbauphase. Ein kleiner Stützpfeiler aus der Zeit Ihrer Eltern, der nun einem Transportablauf Ihres Betriebes im Wege steht, trägt vielleicht ein inzwischen entscheidendes neues Gebäudeteil. Oder die kollegialen Umgangsformen, die Ihre Eltern für eine ganz andere Unternehmensstruktur entwickelt und die Sie einfach haben weiterlaufen lassen, lähmen Ihre offensive Firmenphilosophie.

Wenn Sie nun den Pfeiler herausreißen, stürzt vielleicht das ganze neue Büro mit ein, oder wenn Sie in Ihrer Führungsstruktur plötzlich autoritär durchgreifen, zerstören Sie die Grundlagen der Zusammenarbeit und lösen destruktive Widerstände aus. Trotzdem werden Sie es wahrscheinlich irgendwann tun, weil das Fremde in Ihrer eigenen Firma Sie schließlich so stört, dass Sie die Folgen in Kauf nehmen. Oder aber Sie haben diesen starken eigenen Gestaltungswillen gar nicht und lassen die Dinge, wie sie sind. Dann werden Sie merken, wie das undurchdrungene Fremde irgendwann eine Eigendynamik entwickelt, die Ihnen über den Kopf wächst, weil Sie die sich verselbstständigenden Prozesse nicht mehr integrieren können.

So darf auch nichts in unserem Wesen unverwandelt bleiben! Wenn es doch etwas gibt, was wir bei der Individu­alisierung unseres Leibes oder unserer Seele sozusagen vergessen, übersehen oder uns nicht zu eigen machen möchten, dann begegnen wir ihm irgendwann in unserem Leben wieder, weil es uns stört.

Warum wir krank werden

Auf körperlicher Ebene gibt es rätselhafte Krankheiten, bei denen das Immunsystem eines Menschen plötzlich beginnt, Gewebe des eigenen Körpers anzugreifen und zu zerstören. Die Zuckerkrankheit des jungen Menschen (Diabetes Typ A), Rheuma und einige Erkrankungen des Bindegewebes (zum Beispiel Lupus erythematodes) gehören dazu. Scheinbar wendet sich die Immunabwehr aus unerklärlichen Gründen gegen körpereigenes Gewebe, gegen die Insulinzellen der Bauchspeicheldrüse, die Innenhaut der Gelenke oder das Bindegewebe. Sie beginnt, den eigenen Körper zu zerstören. Doch manches spricht dafür, dass es nicht wirklich das eigene Gewebe ist, das plötzlich zerstört wird. Vielmehr sind es wahrscheinlich unverwandelte Reste mit den Oberflächeneigenschaften dessen, was uns einmal durch die Vererbung übergeben wurde, und was wir nicht der Individualität unseres eigenen Wesens anverwandelt haben. Es scheint also nicht wirklich unser eigenes Gewebe zu sein, das von unserem Immunsystem angegriffen wird, sondern die lang übersehene Säule im »Betrieb« unserer Eltern, die uns irgendwann derart stört, dass wir sie einreißen, auch wenn dabei ein ganzer Gebäudeteil zusammenfällt.

So kann es auf allen Ebenen unseres Wesens diese unverwandelten Reste geben, die irgendwann zu Krankheitsherden werden, wenn wir es nicht schaffen, sie uns später im Leben doch noch anzueignen.

Wozu Kinderkrankheiten gut sind

Wo haben wir die Quelle der Kräfte zu suchen, mit denen wir diese gewaltige innere Verwandlung vollbringen, durch die wir erst wirklich in der Welt ankommen? In der Wärme und im Feuer!

In der Fieberglut der Kinderkrankheiten schmelzen wir unseren Körper um und machen ihn zu einem Instrument unseres inneren Wesens. Die Glut der Begeisterung lässt uns in eine selbstbestimmte, gefühlserfüllte Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen treten. Und später entzündet sie in uns die Flamme der Jugendideale, in denen biographische Motive aufglimmen können, die das ganze Leben beeinflussen. In ihren Flammen spiegeln sich unsere Impulse, die wir aus dem Himmel mitgebracht haben und in die Welt tragen wollen. Und die Wärme der Liebe wird es sein, die uns hilft, sie vielleicht ein Stück weit zu verwirklichen.

So ist alles, was diese Feuerkräfte in uns entfacht und unterhält, eine Hilfe für die Verwandlung des Mitgebrachten in etwas, was den Stempel unserer Individualität trägt. Je mehr wir den erkaltenden Kräften, die sonst um uns herum wirken, dieses eigene innere Feuer entgegensetzen können, desto weniger unverwandelte Reste werden bleiben, die uns später krank und schwach machen. Dies zu unterstützen, kann Motiv und Ziel jeder Erziehung und Pädagogik sein, ebenso wie jeder medizinisch-therapeutischen Hilfe.

Zum Autor: Dr. med. Bernd Kalwitz ist Schularzt an der Rudolf Steiner Schule Bergstedt/Hamburg; langjährige Einrichtungs- und Seminarleitung der heilpädagogischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Vogthof in Ammersbek bei Hamburg; heute stellvertretende Schulleitung der Fachschule Nord in Kiel und Dozent an der Fachhochschule Ottersberg.