Heimat gestalten. Berufsbild und Schulung des Erziehers im Hort

Johannes Wolter

Alle schulischen Orte, besonders der Hort, wollen dem Kind Heimat sein, Orte verlässlicher, Rückhalt gebender Bindungen an konkrete Menschen und Gruppenkonstellationen mit sinnerfüllten Erlebens- und Tätigkeitsmöglichkeiten. Der Erzieher muss die Beziehungen zwischen der altersgemischten Gruppe und dem einzelnen Kind durch vielfältige Anregungen gestalten. In einem solchen lebendigen sozialen Organismus balancieren sich vier miteinander in Beziehung stehende Qualitäten aus, die Rudolf Steiner als die im Menschen wirksamen Grundkräfte beschrieben hat: Formkräfte, Lebens- oder Vitalkräfte, seelische Kräfte und Bewusstseinsvorgänge.

Ein solches Zusammenwirken von Kräften taucht auch in Aaron Antonovskys Forschungen zur Salutogenese auf, die die tieferen Quellen von Gesundheit und Heilung untersuchen und wesentliche Grundanliegen der Waldorfpädagogik und anthroposophischen Medizin berühren. Dazu gehört zum Beispiel das sogenannte Kohärenzgefühl, das durch die drei Komponenten Verstehbarkeit (Denkebene), Sinnhaftigkeit (emotionale Ebene) und das Gefühl von Bewältigbarkeit und Handhabbarkeit (Willensebene) gebildet wird. Das Kind muss verstehen können, was geschieht; es muss einen Sinn darin sehen und es darf nicht überfordert werden.

Der Beruf des Horterziehers ist vielfältig. Seine Tätigkeit bezieht das Geschehen im Umkreis des Hortes und die Gestaltungsarbeit im Hort und im Erzieher selbst mit ein. Horterzieher gestalten einen »Er-­lebensraum« zwischen Schule und Elternhaus für das Schulkind, das Welterfahrung und -begegnung sowie menschliche Anbindung sucht.

Erzieher in diesem Arbeitsfeld müssen »Alleskönner« sein: Helfer, Vermittler, Tröster, Vorbilder, Heiler, Lehrer. Sie müssen häuslich, flexibel, fröhlich, verlässlich, kreativ, aber auch konsequent sein, Interesse für persönliche Nöte und Fragen haben, Jugendliteratur vermitteln, Spiele und verschiedenste handarbeitliche und handwerkliche Tätigkeiten kennen. Hortner sind ein Stück weit Erlebnispädagogen, machen Eltern- und Beratungsarbeit und bringen sich – wo möglich – in den Schulorganismus ein. Und sie vergessen bei alledem möglichst nicht sich selbst.

Sie wissen: Familienergänzend, nie die Eltern ersetzend, soll ihre Aufgabe in diesem Entwicklungsraum sein, der immer mehr versteppt und verinselt. Die Dauer einer unbeschwerten Kindheit, das Kinderprivileg auf totale Zweckfreiheit, das undisziplinierte Glück der kindlichen Lebens- und Fantasiewelten werden immer mehr eingeschränkt. Die Kindheit als Fundament der Biografie verschwindet in der von Dauereffizienz und Zweckdenken geprägten Welt des Erwachsenenlebens, in der sinnerfüllte Betätigung zu einer besonderen Herausforderung wird. Eine Erziehung zur Lebenstüchtigkeit muss auch im Hort gepflegt werden, damit die Kinder als erwachsene Menschen mit schöpferischer Phantasie und Initiative in den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen bestehen können.

Den Kindern fehlt das Üben

Heute wird ein übergroßer Anteil der Bildung von unseren Kindern im Sitzen und Zuhören aufgenommen. Nach den Schulstunden verbringen sie viel Zeit sitzend an Hausaufgaben und Bildschirmen. Die Kenntnis globaler Zeitprobleme wächst, während gleichzeitig die Handlungsfähigkeit schwindet. Unsere Kultur des Sitzens und passiven Zuschauens steht der Suche der Kinder nach Entfaltungs-, Erlebens- und Bewegungsräumen entgegen. Die Kinder suchen mit Mitteln, die uns herausfordern, nach Möglichkeiten, die Verhältnisse zu verändern. Nicht eine Ganztagsschule mit einer Verschulung der Nachmittage, sondern Ganztagslebensräume sind – auch vom Hortner – zu gestalten. Und das wird in den 230 Waldorfhorten und Nachmittagsbetreuungen auf unterschiedlichste Art versucht. Den Kindern fehlt die lebensvolle Erfahrung des Erübens von Fähigkeiten, des Übens aller methodischen Schritte: wie man hinter etwas kommt, es ausprobiert, scheitert und das Scheitern zu neuen Ideen und Impulsen nutzt. O.F. Bollnow macht in seiner bedeutsamen Schrift »Vom Geist des Übens« darauf aufmerksam, dass es beim Üben nicht um kognitiven Lerndrill geht, sondern um die Gestaltung eines entwicklungsoffenen, inneren Menschen: »Richtig verstandenes Üben schenkt innere Freiheit.«

Das Üben als schöpferische Entwicklung von Können und Kenntnis zeichnet in einzigartiger Weise die Kindheit aus. Leben ist zugleich Entwicklung. Wir können ihre Intensität bestimmen. Sie geschieht besonders in den Zwischenräumen, in den nicht durchorganisierten Lücken, im erlebnisreichen und erfahrungsgesättigten, vielfältigen Nachmittags-Lebensraum.

Der Hortner ist Brückenbauer für Prozesse, die sich im Erreichen von Sozialkompetenz zeigen, in einer Kultur des Zueinanders und Miteinanders – einer Kulturpädagogik. Karl König sagt: »Kind-Sein heißt, sich wandeln dürfen durch Gehen, Sprechen, Denken, durch Nachahmung und Vorbild, durch Autorität und Freiheit. ... Immer neu entsteht um das Kind die Welt der anderen. Diese andere Welt sind wir. Wandeln kann sich das Kind, aber wandeln wird es sich nur in der Art, wie eben die Menschen, die es umgeben, ihm begegnen. Kindheit ist erst ... dann eine Wirklichkeit, wenn die Menschen, die um die Kinder sind, selbst wieder beginnen, Kinder zu werden, wenn sie ... sich auf den Weg begeben, beginnen sich selber zu wandeln. Dem Kind ist das Wandeln gegeben, der Erwachsene muss es sich immer wieder neu erwerben. Menschsein ist immer ein Werdendes.«

Raum zum Atmen

Der Hortner hat es in der Regel mit Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren zu tun. Um ein vertieftes Verständnis für diese Entwicklungsphase zu erlangen, ist es hilfreich, sich mit der Menschenkunde des zweiten Jahrsiebts auseinanderzusetzen. Mit dem Übergang vom ersten zum zweiten Jahrsiebt wird das Kind fähig zu schulischem Lernen. Seine Vorstellungs- und Erinnerungsfähigkeiten im Zusammenhang mit aktuellen Wahrnehmungen nehmen zu. Deshalb sind die Kinder jetzt in neuer Weise im Stande, sich an Spielregeln zu halten.

Um das achte Lebensjahr herum entwickelt das Kind eine neue Möglichkeit, Zusammenhänge gedanklich zu verstehen. War es bisher eher von einzelnen Wahrnehmungen angezogen, bildet es jetzt ein Verständnis für Verhältnisse aus, geht sozusagen auf Distanz. Diese Fähigkeit nennt Hans Müller-Wiedemann »Relationen als Ein- und Ausatmungserfahrung«. Rudolf Steiner bezeichnet diese Phase (zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr) als »Atemreife«. Der Erzieher bekommt also Kinder in den Hort, die zwischen Zahnwechsel, »Atemreifung« und »Erdenreife« (Pubertäts- und Adoleszenzzeit) stehen.

Aufgabe des Hortes ist es also, einen Raum zu schaffen, in dem das Kind erst einmal nach der Schule ausatmen kann, einen Raum der Mitte und Vermittlung zwischen Schule und Elternhaus, einen Raum der Begegnung mit dem Erwachsenen, der nicht mehr ein ihm gegenüberstehender Lehrer, aber auch nicht vertrauter Elternteil ist, sondern sich als Begleiter an die Seite des Kindes stellt und mit ihm den Blick auf die Erscheinungen der Welt übt.

Hier gewinnt der Ursprung des Wortes »Hort: Schatz; das Angehäufte, Fülle, Menge« wieder Bedeutung, allerdings nicht im Sinne der heute bekannten Reizüberflutung, sondern als »sicherer Ort, Schutz, Zuflucht«, wie das Wort im Neuhochdeutschen zunächst auf Gott bezogen verwendet wurde. Das germanische Wort »huzdo« ist verwandt mit den Wörtern für Haus und Hose und weist auf Hüllenbildung hin. Dieser Hülle bedarf das Kind um das neunte, zehnte Lebensjahr in besonderem Maße. Da beginnt es sich von der Umwelt abzugrenzen und einen eigenen inneren Seelenraum auszubilden. Das individuelle Einpendeln des Atem-Puls-Rhythmus auf das Verhältnis von 1 : 4 in diesem Alter ist nach Steiner die physiologische Voraussetzung für das »Einklinken« des Ich.

Es kann auch von einer neuen Art des Ich-Erlebens gesprochen werden. Konnte das Kind bisher seelisch mit seiner Umgebung unbewusst im Einklang sein, so erlebt es jetzt immer deutlicher die Diskrepanz zwischen der Umgebung und seinem eigenen seelischen Erleben. Fragen nach dem eigenen Ursprung, nach familiärer Herkunft und Identität, nach der eigenen Sterblichkeit tauchen auf und bedürfen der verständnisvollen Begleitung durch den Erwachsenen.

In Zukunft wird eine tragende, voraussetzungslose Beziehung weiter an Bedeutung gewinnen: Respekt vor der Würde des anderen, Interesse, Ehrlichkeit, Liebe und Verlässlichkeit. Die hier angedeuteten menschenkundlichen Gesichtspunkte müssten gewichtiger Teil der Aus- und Fortbildung sein. Sie helfen nicht nur, das Kind in diesen Phasen seiner Entwicklung besser zu verstehen, sondern inspirieren auch eine Fülle von methodisch-didaktischen Ideen.

Vor allem aber lassen sie erkennen, dass der Hort, dem immer noch der Ruf einer »Notlösung« anhaftet, eine eigenständige, sinnvolle pädagogische Einrichtung zwischen Elternhaus und Schule darstellt. Einen wie auch immer gearteten Hort – eine Heimat – braucht jedes Kind in diesem Alter.

Hinweis: Dreimal im Jahr finden Tagungen für Waldorferzieher statt, die der Vernetzung, Vertiefung und Aktualisierung der Arbeit im Hort und in der Nachmittagsbetreuung dienen.

Zum Autor: Johannes Wolter ist Waldorf- und Heilpädagoge und begründete das Anthroposophische Zentrum Kassel und das Rudolf-Steiner-Institut in Kassel mit und ist dort seit 1984 tätig.

Literatur: A. Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997 (siehe auch: »Erziehungskunst«, Mai 2003)

O.F. Bollnow: Vom Geist des Übens, Oberwil 1987

K. König: Ewige Kindheit, Wien 1964 (Manuskriptdruck)

J. Piaget/B. Inhelder: Die Psychologie des Kindes, München 1993

H. Müller-Wiedemann: Mitte der Kindheit, Stuttgart 2003

J. Denger: Der Rubikon …, in: Helmut Neuffer (Hrsg.): Zum Unterricht des Klassenlehrers an Waldorfschulen, Stuttgart 2000 (siehe auch »Erziehungskunst«, Heft 5/1985)

H. Köpke: Das neunte Lebensjahr, Dornach 1998