Lehrer und Schüler an Waldorfschulen sind zufriedener

Ein Grund dafür ist die kollegiale Verwaltung, die es dem einzelnen Lehrer ermöglicht, Schule aktiv mitzugestalten. Eine weitere Studie zu den »Bildungserfahrungen an Waldorfschulen« aus Schülersicht, ebenfalls von ihm zusammen mit Professor Heiner Barz und Sylva Liebenwein (beide Universität Düsseldorf) herausgegeben, kommt zu dem Ergebnis, dass Waldorfschüler gesünder, lernmotivierter, selbstbewusster und von der Schule weniger gestresst sind als Schüler von der Regelschule. 

Erziehungskunst | Warum sind Waldorflehrer weniger gesundheitlich gefährdet?

Dirk Randoll | Waldorflehrer können sich von ihrem Beruf distanzieren und am Abend gut abschalten. Die Orientierung an der Anthroposophie spielt bei der Distanzierungsfähigkeit eine wichtige Rolle.

EK | Der hohe idealistische Anspruch der Lehrer macht sie zufriedener. Macht er sie auch widerstandsfähiger?

DR | Unbedingt. Die Waldorfpädagogik ist für die Pädagogen der Identifikationsanker schlechthin – sowohl bei der Wahl als auch bei der Ausübung ihres Berufs.

EK | Sind Waldorflehrer innovationsresitenter?

DR | Nicht so neuerungsfreudig sind die älteren und stark an der Anthroposophie orientierten Waldorflehrer. Sie fürchten den Verlust der geisteswissenschaftlichen Grundlagen, nicht so sehr den Verlust ihrer Selbstbestimmung und individuellen Freiheit.

EK | Warum verbleiben neu eingestellte Lehrer durchschnittlich nur vier Jahre an Waldorfschulen?

DR | Wenn junge, frisch ausgebildete Lehrer das, was sie soeben gelernt haben, mit Enthusiasmus umsetzen wollen, trifft dies bei den älteren nicht immer auf Wohlwollen. An Waldorfschulen potenziert sich dieses Generationenproblem durch den unterschiedlichen Umgang mit der Anthroposophie – den jungen Lehrern ist sie in ihrem Beruf deutlich weniger wichtig als den älteren. Schließlich ist die geringe Verweildauer auch auf das geringere Gehalt der Waldorflehrer zurückzuführen.

EK | Die Studie stellt fest, dass ein Fünftel der Befragten dazuverdienen muss.

DR | Das geringe Gehalt wird von den meisten Waldorflehrern tatsächlich als belastend erlebt. Wenn über 20 Prozent einen Nebenjob ausüben müssen, um über die Runden zu kommen, dann ist das inakzeptabel. Dass Waldorfschulen Probleme bei der Rekrutierung junger Lehrer haben, ist deshalb nur allzu verständlich. Die Waldorfschulen können nicht mehr länger auf die altruistische Haltung ihrer Lehrer bauen, diese Zeit geht eindeutig dem Ende entgegen.

EK | Was belastet Waldorflehrer neben Geldsorgen am stärksten?

DR | Klassenlehrer fühlen sich im Vergleich zu anderen Lehrern am stärksten durch das Schreiben von Zeugnissen belastet. Bei anderen Lehrergruppen spielen andere Faktoren eine Rolle, wie zum Beispiel die ungenügende Ausstattung mit Lehr- und Lernmaterialien.

EK | Warum ist Selbstverwaltung teuer? Waldorfschulen wirtschaften doch in der Regel kostengünstiger als staatliche Schulen?

DR | Wenn jeder Lehrer fast jeden zur Entscheidung anstehenden Punkt mitentscheidet und es keine Arbeitsteilung, wie zum Beispiel beim Mandatsmodell, gibt, dann ist dies nicht nur unwirtschaftlich, sondern zuweilen auch nervenaufreibend. Die Lehrer selbst halten die Selbstverwaltung sogar für wenig effektiv und unprofessionell.

EK | Werden die Eltern von den Lehrern eher als Belastung oder Bereicherung erlebt?

DR | Eindeutig als Bereicherung, weil der gemeinsame Bezugspunkt eben die Waldorfpädagogik ist, der ein bestimmtes Menschenbild zugrunde liegt, an dem sich Lehrer wie Eltern orientieren. Im Alltag kann es dennoch zu Konflikten kommen – das ist ja auch völlig normal.

EK | Sind Waldorflehrer zufriedener, weil sie es vorwiegend mit unproblematischen Schülern zu haben?

DR | Mit Sicherheit haben sie es mit anderen, weniger gravierenden und als belastend erlebten Schülerproblemen zu tun, als Lehrer an Regelschulen.

EK | Waldorfschulen suchen sich ihre Schüler und Eltern aus. Sehen sie eine Tendenz zur Abweisung »unpassender« Schüler?

DR | Bisher gibt es keine Studie über »Queraussteiger« an Waldorfschulen. Allerdings spielt die Frage nach der »Schulpassung« bei jeder Schulwahl eine Rolle. Sie würden ihr Kind ja auch nicht auf ein katholisches Eliteinternat geben, wenn ihnen andere Werte wichtig sind und sie eine andere konfessionelle Orientierung haben.

EK | Welche Rolle spielt bei der Zufriedenheit der Lehrer die Anthroposophie?

DR | Die jüngeren Lehrer sind die Pragmatiker – sie wollen guten und modernen Unterricht machen und zwar unabhängig vom geistigen Hintergrund der Waldorfpädagogik. Die Anthroposophie spielt für sie eine eher untergeordnete Rolle. Die Älteren sind hingegen deutlich altruistischer und orientieren sich stärker an der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners. Beides hat Vor- und Nachteile.

EK | Ihre Untersuchung zeigt, dass ausgerechnet Lehrer der musisch-handwerklichen Fächer, einschließlich der Eurythmisten, wenig Wertschätzung erfahren.

DR | Dieses Ergebnis hat uns am meisten überrascht. Es hat damit zu tun, dass die musisch-künstlerischen Fächer nicht in Epochen unterrichtet werden, dass sie teilweise sehr kostenintensiv sind – vor allem die Eurythmie –, und dass prüfungsrelevante Fächer von Eltern und Schülern meist höher gewertet werden.

EK | Die mangelnde Qualität der Lehrerbildung stellt ein weiteres Problemfeld dar.

DR | Die Waldorfschulbewegung ist die einzige, die sich hierzulande eigene Lehrerbildungsstätten leistet. Diese haben aber zu lange eigene Wege beschritten und deshalb den Anschluss an die neuere Lehr- und Lernforschung verpasst. Reformen scheinen daher dringend geboten, wenn nicht gar eine ganz andere konzeptionelle Ausrichtung.

EK | Eine weitere aktuelle Studie über »Bildungserfahrungen an Waldorfschulen« kommt zum Ergebnis, dass Waldorfschüler gesünder, lernmotivierter und von der Schule weniger gestresst sind als Schüler von der Regelschule.

DR | Aus den Befunden wird deutlich, dass sich die Lernkulturen an Regel- und an Waldorfschulen deutlich voneinander unterscheiden. Dies hat zur Folge, dass Waldorfschüler weniger Leistungsstress empfinden und weniger Angst vor Prüfungen haben als Regelschüler.

EK | Wie unterscheiden sich Regel- und Waldorfschüler in puncto Lernfreude und Schulzufriedenheit?

DR | Die an der Waldorfschule herrschende Lernkultur hat zur Folge, dass Waldorfschüler deshalb lernen, weil sie die Lerninhalte und den Unterricht interessant und spannend finden. Bei Regelschülern ist dies deutlich seltener der Fall. Zudem definiert sich die Lehrer-Schüler-Beziehung an Waldorfschulen weniger häufiger über die schulischen Leistungen der Schüler als vielmehr über Aspekte wie Empathie, Wertschätzung und Achtung.

EK | Warum benötigen Waldorfschüler mindestens genauso viel, wenn nicht mehr Nachhilfe als Regelschüler?

DR | Ein Grund dafür ist der hohe Anteil an Quereinsteigern (mehr als ein Drittel). Es sind Schüler, die aus irgendeinem Grund mit der Regelschule nicht zurechtgekommen sind oder deren Eltern mit der Schullaufbahnempfehlung nicht einverstanden waren. Gerade diese Schüler haben einen hohen Nachhilfebedarf. Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass Waldorfschulen hier und da Qualitätsprobleme im Pädagogischen haben, zum Beispiel beim binnendifferenzierten Unterricht in der Oberstufe.

EK | Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie hat in einer Übersichtsstudie festgestellt, dass für den Lernerfolg die Lehrerpersönlichkeit entscheidend ist. Sind Waldorfschüler lernbereiter, weil die Beziehung zu ihren Lehrern besser ist?

DR | Einige unserer Befunde bestätigen dies – auch das ist ein wesentlicher Bestandteil einer lernfördernden Schulkultur.

EK | Ist das in die Diskussion geratene Klassenlehrerprinzip also doch noch zeitgemäß?

DR | Das achtjährige Klassenlehrerprinzip ist insofern zeitgemäß, als es den Schülern relativ verlässliche Beziehungen über einen längeren Zeitraum bietet. Verbesserungsbedarf besteht bei der fachlichen Förderung der Schüler. Hier wäre eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Klassen- und Fachlehrern wünschenswert.

EK | Der Übergang von der Klassenlehrerzeit zur Oberstufe (ab Klasse 9) wird problematisiert. Was sind die Gründe dafür?

DR | Die achtjährige Klassenlehrerzeit ist ein Schonraum – keine Noten, kein Sitzenbleiben, keine größeren Konsequenzen für Nichtstun. Das ändert sich spätestens ab der 9. Klasse. Deshalb empfinden viele Schüler den Übergang als Schock. Das ist dann nicht mehr »ihre Waldorfschule«.

EK | Der Anteil der Schüler, die nicht mit beiden Elternteilen zusammenleben, ist an Waldorfschulen überrepräsentiert. Welche Folgen ergeben sich daraus für die Schulen?

DR | Die meisten Alleinerziehenden sind Mütter. Und weil auch mehr als zwei Drittel der Klassenlehrer weiblich sind, haben es Jungs in ihrer Identitätsfindung deutlich schwerer als Mädchen. Das trifft aber auch auf die Regelschule zu.

EK | Sind Waldorfschüler weniger angepasst als Regelschüler?

DR | Waldorfschüler denken anders – unkonventioneller, kreativer, weniger an Autoritäten und Wissensbeständen ausgerichtet. Auch sind sie materiell ganz gut abgesichert, was es ihnen ermöglicht, verschiedene Dinge – wie zum Beispiel Drogen, Nikotin und Alkohol – vermehrt auszuprobieren. Ob sie deshalb generell weniger angepasst sind als Regelschüler, bezweifle ich. Denn auch Regelschüler entsprechen nicht immer der Regel.

EK | Ihre Studie zeigt, dass Waldorfschulen keine Wohlfühlinseln mit Kuschelpädagogik sind. Welche Probleme werden von Eltern und Schülern besonders hervorgehoben?

DR | Eltern und Schüler haben hohe Bildungserwartungen – über 70 Prozent der Waldorfschüler streben das Abitur an. Das bringt die Waldorfschule in Schwierigkeiten, weil dies gar nicht ihr Fokus ist. Probleme im Leistungsbereich sind vorprogrammiert, besonders wenn Eltern mehr von der Waldorfschule erwarten, als sie zu erfüllen vermag.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.