Der Andere: ein Ich wie ich und ein Du wie kein anderes

Henning Köhler

Dank an Martin Cuno für diese spannenden Ausführungen. Sie betreffen ja, abgesehen von der Inklusionsfrage, ein Thema, an dem die Postmoderne im Versuch, das Scheitern der Moderne nachzuweisen, noch grandioser scheitert: Was bedeutet »Ich«? Ist das autonome Subjekt eine Illusion bzw., wie Cuno, auf Nietzsche rekurrierend, schreibt, »Anmaßung« (wenn ja, wessen?) – oder doch die  Erfahrung einer unhintergehbaren Realität, vielleicht, bei Licht betrachtet, der einzigen?

Das postmoderne Credo lautet: Die große Erzählung vom ›eigenen Ich‹ ist antiquiert. Oder: »Geistige Selbste sind keine irreduziblen Bestandteile der Wirklichkeit.« (Thomas Metzinger). Von der Feuilletonebene bis hinauf zu den philosophischen Hochseilakrobaten, von biologistischen Hardlinern bis zu den Vordenkern der neuspirituellen Szene herrscht darüber weitgehend Einigkeit. Und alle tun so, als markiere dies eine sensationelle geistesgeschichtliche Wende. Doch die philosophische und wissenschaftstheoretische Moderne (lassen wir mal das Verdikt gelten, sie sei vorüber; ich habe da meine Zweifel, denn der Postmodernismus ist völlig profillos und, näher betrachtet, eher ein verkappter Prämodernismus) war alles andere als eine Ich-Verklärungs-Ära. Schon seit 150 Jahren steht das »idealistische« bzw. »metaphysische« Konzept von geistiger Individualität ganz oben auf der Abschussliste aufgeklärt sich dünkender Welterklärer. Nichts Neues im Westen. Mit sämtlichen Ingredienzien des postmodernen ›Das-Ich-ist-tot‹-Furors musste sich schon Steiner herumärgern, der begreiflicherweise tief dankbar war, dass so jemand wie Max Stirner (Der Einzige und sein Eigentum) ihm Anknüpfungspunkte bot. »Es gibt das Ego gar nicht, von dem man redet, wenn man den Egoismus tadelt«, meinte – auffällig gleichlautend mit westlich-pseudobuddhistischen Verlautbarungen der Gegenwart – Nietzsche. Damals war das ein genialer Unsinn, den die Zeit brauchte. Heute ist es nur noch eine ausgelutschte Redensart, die das Denken beleidigt. Selbstverständlich existiert Egoität. Sonst käme niemand auf den Gedanken, sie zu verneinen. Man hat ja hoffentlich für das, was hier Verneinung evoziert, wenigstens einen vagen Begriff. Ich finde die pubertäre Lust des Ego, sich selbst den Vogel zu zeigen und zu sagen: Ätsch, ich bin gar nicht da, im Prinzip sehr belebend, aber irgendwann reicht es. Irgendwann muss die Moderne erwachsen werden.

Ein »abendländischer Subjektwahn« lässt sich, bei Licht betrachtet, allenfalls in Randbezirken des europäischen Denkens ausmachen, als bedingter Reflex auf das verheerende Gegenteil. Die katastrophalsten Ereignisse und Entwicklungen  der letzten Jahrhunderte waren eher  Ergebnisse eines abendländischen Kollektivwahns, der in verschiedenen Färbungen auftrat und unter dessen Einfluss der Individualismus zuerst dämonisiert, dann auf einen faden, nichtsdestoweniger gefährlichen Liberalismus des »Jeder-für-sich-und-Gott-gegen-alle« heruntergebrochen wurde. Die große Erzählung von Ich-heit, Ich-Identität, Einsamkeit vor Gott und der Liebe, die darin besteht, dass zwei (oder mehrere) ihre Einsamkeit teilen, ist Fragment geblieben. Sie auszugestalten, obliegt – hoffentlich – der Zukunft.

Kann es beim nächsten Schritt humanistischen Denkens tatsächlich darum gehen, das Ich – als Einsamkeit, Einzigkeit, Eigentum; nicht (nur) als Brennglas einer allgemeinen Ideenwelt oder Tropfen aus dem ozeanischen Allgeist – zu verabschieden? Die ganze Ich-Leugnungs-Kampagne kommt mir so vor, als ob jemand nicht auf die Lösung eines Rätsels käme und irgendwann verärgert behauptete, das Ganze sei Betrug, es gebe gar keine Lösung, er wolle jetzt etwas anderes spielen.

Das kleine Ich als bloßen Teilnehmer des eigentlichen, allumfassenden Selbstes zu denken, ist banal. So leicht kommen wir da nicht heraus. Dem Mysterium, dass der Andere im radikalsten Sinne ein Anderer ist, ein Universum für sich, jemand, den ich niemals wirklich kennen kann, und dass auch ich für die Anderen eine solche Unergründlichkeit bin und nur die Liebe – und zwar die Liebe in Freiheit, d.h. aus Einsamkeit – Entgrenzung zu bewirken vermag, ohne dass diese Entgrenzung je total sein dürfte (denn sonst wäre die Liebe wie auch die Freiheit dahin) … diesem Mysterium müssen wir uns stellen.

Ein Schlüsselerlebnis ist hierbei die Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit einem Neugeborenen. Der Ich-Sinn gibt mir klare Kunde: Da ist ein (anderes!) Ich. Richtig: Die Begegnung findet von Ich zu Ich statt. Aber das andere Ich ist eben im ausgezeichneten Sinne auch ein Du: ein anfragendes Gegenüber, welches meine Antwort erfleht. Die Sache mit dem Subjekt führt geradewegs zur Frage der Inkarnation eines Geistwesens, welches von Anfang an dieses einzige, unwiederholbare, nie gewesene, nie wiederkehrende ist – und doch auch Geist von dem Geiste, der uns alle verbindet. Um auf der Höhe des Themas zu sein, müssen wir uns aus der Entweder-Oder-Falle befreien. »Das Geheimnis wird größer, wenn man hineingeht«, pflegt hier mein Freund Johannes Stüttgen zu sagen. Der Andere ist ein Ich wie ich. Ich bin er. Er ist ich. Richtig. Zugleich aber – und das frappiert! – bedeutet seine Ichheit, dass er ganz entschieden nicht ich ist, sondern ein Du: äonenfern und auf eine unermessliche (mich ehrfürchtig stimmende) Weise fremd. Und seine Existenz ist ein Appell an mich: Erhalte dich in deinem ›eigenen‹ Ich, damit du für mir geben kannst aus deiner Fülle.

Dass die postmoderne Absage an das autonome Subjekt möglicherweise eine Voreiligkeit war/ist, ziehen, wie mir scheint, immer mehr Denker in Betracht, wobei die interessantesten Reden zur Verteidigung des verfemten »Faktors I« (Ich, Individualität, Identität, Intentionalität) aus nicht spirituellen Kreisen kommen.

Slavoj Žižek – man mag über ihn sagen, was man will – veröffentlichte kürzlich den beachtlichen Essay Das Unbehagen im Subjekt. Darin wird der postmoderne Kreuzzug gegen das Ich als Schwächeperiode westlichen Denkens charakterisiert. Statt uns dem Ich-Mysterium zu stellen und die daraus hervor springenden Paradoxien auszuhalten, vernebeln wir das Thema durch – je nach Neigung – ständige Verweise auf das Gehirn, die Gene, interaktive Prozesse oder ein allverbindendes Höheres. Ichheit bedeutet aber gerade, dass etwas existiert – besser gesagt: fortwährend sich ereignet –, das aus alledem nicht erklärbar ist.

Martin Frank legte schon Ende der 1980er Jahre seine beachtliche Studie Die Unhintergehbarkeit von Individualität hervor. Dort heißt es: »Eine These ist in Mode gekommen. Sie besagt, das neuzeitliche Subjekt – in allen seinen Schattierungen: als ›reine Apperzeption‹, als Mensch, Person oder Individuum – sei theoretisch wie praktisch ›am Ende‹. Die These als solche ist nicht neu, aber der Vorwurf mangelnder Originalität entkräftet nicht schon ihre Pertinenz. (Sie) scheint für ein dumpfes, wenn auch verbreitetes Gefühl zu stehen, wonach die Deutungspotenziale und Sinnstiftungsreserven des letzten Ausläufers abendländischer Kultur, eben der Neuzeit, sich erschöpft haben. (Man bringt) die Erschöpfung des Paradigmas der Moderne mit der des Subjekts zusammen. Ich möchte dieser These (…) widersprechen.«

Das möchte ich auch. Und Martin Cuno? Sein Text ist zu kurz, als dass ich sicher sein könnte, wo er steht. Deshalb ist diese Antwort nicht als Widerspruch aufzufassen, sondern als Mitteilung einiger Gedanken, die er in mir ausgelöst hat.

Für mich führt kein Weg daran vorbei, dass Steiner in jedem Menschen die (Re)Inkarnation eines individuellen Menschenwesens sieht, welches »geistig gesehen, eine Gattung für sich ist« und im Kontext der Menschheitsentwicklung eine ›eigene‹ Entwicklung durchläuft, die durch Stadien der Vereinzelung und Stadien der Allverbundenheit in der »Sphäre der Urkommunikation« (Georg Kühlewind) führt – ohne dass es dort sein Eigen-Sein vollständig verlöre. Natürlich heißt das nicht, Henning Köhler oder Martin Cuno wanderten als im Prinzip dieselben Personen von Leben zu Leben! Aber eine Melodie (ich wähle das vielleicht passendste Behelfswort) klingt von Leben zu Leben immer wieder auf, die ihresgleichen nicht kennt. Schon Meister Eckhard stellte klar, dass wir »noch zu Füßen Gottes« – in fernen, fernen Zeiten – nicht verlieren werden, was uns an Eigen-Sein (in einem ganz und gar unegoistischen Sinne, versteht sich) zugewachsen ist. Nur auf der Erde kann der Mensch die Freiheit entwickeln, sagte Rudolf Steiner, und wird nur so viel Freiheit hinaustragen können in andere Welten, als er sich auf der Erde erworben hat. Freiheit aber ist undenkbar ohne Ich-heit im Sinne von Ein-samkeit. Meditation: der Ein-same in Allverbundenheit.

Noch einmal: Schlagen wir das Mysterium nicht mit dem Entweder-Oder-Zwang tot, sondern stellen wir uns ihm.

Zu Cunos Ausführungen über Inklusion möchte ich nur sagen: Mich als passionierten Heilpädagogen erfüllt und erwärmt – anders als ihn? – die Hoffnung, dass eine Zeit kommen möge, in der Menschen mit »Behinderungen« nicht mehr in speziellen Einrichtungen untergebracht werden müssen, sondern in Gemeinschaften leben, die sich keineswegs als karitative Stätten verstehen – einfach deshalb, weil in ihnen niemand die Frechheit besitzt, auf einen anderen Menschen zu zeigen und zu sagen: »Du bist behindert, ich hingegen nicht.« Bis dahin wird es noch ein langer, langer Weg sein. Wenn manche Inklusionspropheten, reichlich realitätsfremd, mit Überlichtgeschwindigkeit in diese ferne Zukunft rasen wollen, nennt man das eine luziferische Überstürztheit. Die Utopie aus dem Auge zu verlieren, wäre eine ahrimanische Täuschung: Das Bestehende wird so lange beschönigt, bis der Eindruck entsteht, es entspreche bereits dem noch Anzustrebenden. Jedenfalls sind unsere heutigen Kriterien für Normalität, Gesundheit, »menschliche Vollwertigkeit« etc. so borniert, dass ich mich damit unmöglich zufrieden geben kann. Und die Praxis anthroposophischer Heilpädagogik (meine eigene Arbeit eingeschlossen!) erlaubt es uns nun wirklich nicht, wie der Igel dem Hasen zuzurufen: »Ätsch, wir sind schon längst da!«

Aber so war das sicherlich auch nicht gemeint.

Mit herzlichen Grüßen und nochmals Dank für den anregenden Beitrag

Henning Köhler

Martin Cuno, Inklusion, anthroposophisch gedacht