Geistesleben – radikal verstanden

Stefan Oertel

Der Bildungsgutschein mag ein sinnvoller Schritt auf dem Weg zum freien Bildungswesen sein, aber ist mit ihm schon das Ziel erreicht? Man hat damit das Recht auf freie Schulwahl, aber wer definiert zuvor, was als Schule gelten darf und was nicht? Wäre nicht ein Akkreditierungssystem die Folge, das in letzter Instanz doch wieder irgendwie an einer obrigkeitlichen Instanz hängen müsste? Ich verstehe den Begriff des »freien Geisteslebens« viel radikaler als die Befürworter eines Bildungsgutscheines. Wenn wir das kulturell-geistige Leben tatsächlich als etwas sehen, in dem nur wir selbst – jeder Einzelne – zu bestimmen haben, wie es gestaltet wird, bedarf es überhaupt keiner Instanz mehr, die »Bildung« und »Erziehung« vordefiniert.

Rudolf Steiner wollte an der Waldorfschule einen Schuster einstellen, aber die Behörden meinten, das sei nun mal kein Lehrer. Was, wenn ich mein Kind zunächst zu einem Schuster in die Lehre schicken will, anstatt in eine Schule? Oder auf einen Bauernhof? Wem obliegt es, mir vorzuschreiben, was auf diesem Gebiet »richtig« ist? Schließlich gibt es auch keinen Weltanschauungs-Gutschein, mit dem ich mir unter soundsoviel angebotenen Weltanschauungen die richtige für mein Leben auswählen und dann ihre Vertreter finanzieren darf! Selbstverständlich wird man solchen Gedanken nur zustimmen können, wenn man sie in Zusammenhang mit Steiners sozialer Dreigliederung versteht. Gewisse Einwände liegen allzu nahe. Uns ist die obrigkeitlich-patriarchale Ordnung unseres geistig-kulturellen Lebens dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir uns nur Chaos vorstellen können, wenn sie wegfiele. Diese Angst vor der Freiheit steht leider auch hinter dem Konzept des Bildungsgutscheines. Denn dass es den Kindern mancherorts schlimm ergehen müsse, wenn man mit der Freiheit Ernst macht, scheint ausgemacht.

Mit diesem Argument kann man natürlich jeden konsequenten Freiheitsimpuls im Keim ersticken. Dass das Chaos ausbrechen müsse, wenn das Volk regiert, meinten wohl auch die Adligen vor der Französischen Revolution. Und tatsächlich folgte zunächst einmal das Chaos. Man kann Befreiungsvorgänge sicher bewusster führen, als es damals geschah. Aber dass die Freiheit auf dem Gebiet der Bildung ein individuelles Recht sein muss, weiß man einfach, wenn man ein entsprechend entwickeltes Freiheitsgefühl hat. Es ist dann nicht die Frage, ob man sie zulassen darf, sondern wie man sie gestalten muss, damit niemandes Recht (z.B. das der Kinder) durch sie verletzt wird.

Ein gewisses Risiko ist selbstverständlich immer dabei. Ich bin überzeugt, dass der Ausgleich dafür in einer ungeheuren Schlagkraft des neu entstehenden Geisteslebens bestünde. Es gäbe nichts mehr im Bildungswesen, was nicht von Eltern und/oder Lehrern bewusst gewollt sein müsste! Wo nichts mehr automatisch liefe, entfiele die heute omnipräsente Schlappheit und Passivität. Ein weiteres Problemfeld stellt natürlich die Tatsache dar, dass Elternhäuser über sehr verschiedene finanzielle Möglichkeiten verfügen. Das Problem scheint der Bildungsgutschein zunächst gut zu lösen. Die eigentlichen Ursachen der Ungerechtigkeit werden so aber nicht angegangen. Sie liegen im Wirtschaftsleben und in Aspekten des Rechtslebens (z.B. im Besitzrecht) und müssen auch dort gelöst werden.