»Hirnforschung bestätigt Waldorfpädagogik« – tut sie das wirklich?

Thomas Marti

Immer wieder hört oder liest man, die Hirnforschung bestätige die pädagogische Praxis an den Waldorfschulen. Zitiert werden dann gerne Äußerungen von namhaften und öffentlich wirksamen Gehirnforschern zu Fragen von Schule, Bildung oder Erziehung. So auch wieder in der Besprechung einer Neuerscheinung von Gerhard Roth »Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt«.

Nichts gegen die eigentliche Hirnforschung und ihre wissenschaftlichen Befunde! Aber nicht alles, was Hirnforscher so sagen und schreiben, entstammt auch der Hirnforschung. Diese ist eine naturwissenschaftliche Disziplin. Hirnforschung wird an Menschen im Labor und vielfach an Tieren betrieben. Für die Interpretation der Befunde ist der Hirnforscher auf die Beobachtung von Menschen angewiesen, die sich auf bestimmte Weise verhalten und mit denen er in Versuchen kommunizieren kann. Menschen sind notwendig, die empfänglich sind für gewisse Anweisungen und beschreiben können, was in ihnen (seelisch) vorgeht.

Das ist alles eine andere Ebene als die Befunde am Nervensystem. Letztere geben bestenfalls Einblick in den Umstand, dass bestimmte seelische Aktivitäten (zum Beispiel Musik hören oder ein Bild anschauen) bestimmte leibliche Prozesse bewirken, die dann ihrerseits vom Gehirnforscher registriert werden.

Aus Vorgängen am Nervensystem Schlussfolgerungen oder gar Ratschläge für die Bildung und Erziehung von jungen Menschen abzuleiten, stellt eine pseudowissenschaftliche Spiegelfechterei dar.

Das »Sosein des Lehrers«, seine »Ausstrahlung«, sein »Selbstentwicklungspotenzial« oder seine »Kommunikationsfähigkeit« sind mit Sicherheit keine Begriffe der Neurologie, sondern der Psychologie oder Pädagogik, oft auch nur der Alltagserfahrung. Annahmen, die sich auf solche Begriffe beziehen, als Schlussfolgerungen aus der Hirnforschung auszugeben, ist ebenso haltlos wie die Behauptung, mit den neuen bildgebenden Verfahren (zum Beispiel funktionelle Magnetresonanztomografie fMRI) sei die moderne Hirnforschung jetzt in der Lage, dem Menschen beim Denken zuzuschauen (siehe zum Beispiel »Bilder des lebendigen Geistes« unter www.youtube.com). Das ist unseriöse Wissenschaft, mit der die Waldorfpädagogik sich nicht zu garnieren braucht.

Noch einmal: nichts gegen wissenschaftliche Forschung in der Pädagogik! Wenn wir die menschenkundlichen Grundlagen der Waldorfpädagogik noch besser verstehen wollen, um sie weiter entwickeln zu können, dann ist sogar medizinische oder naturwissenschaftliche Forschung angezeigt, etwa um Einblick in die Wirkungen des Unterrichts auf die leibliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu gewinnen. Dabei kann es aber nicht um Beweise oder gar um eine Rechtfertigung gehen nach dem Muster: »Wir sind besser oder mindestens so gut wie andere«, sondern darum, neue Gesichtspunkte und Fragen an die pädagogische Praxis aufzuwerfen. Forschen heißt neue Erkenntnisse gewinnen – und nicht Bekanntes beweisen oder bestätigen.

Angesichts der Hürden, die anthroposophisch motivierte Forschung mit naturwissenschaftlich-medizinischen Methoden häufig zu überwinden hat, um an Waldorfschulen Zugang zu bekommen, ist die Überzeugungskraft erstaunlich, welche die popularisierte Hirnforschung in Waldorfkreisen genießt. Könnte dem ein mangelndes Vertrauen in die anthroposophisch orientierte Forschung mit menschenkundlicher Fragestellung zugrunde liegen?