Inklusion: Runter von der Expertenebene

Christine Primbs

Ich bin seit vielen Jahren treue und eifrige Leserin der »Erziehungskunst«. Ich habe vor 15 Jahren in Bayern einen Waldorfkindergarten gegründet. Die Gründung einer Waldorfschule misslang leider, so dass ich deswegen umgezogen bin. Mein ältestes Kind ging drei Jahre lang auf eine Waldorfschule, dann ließ ich aber meine drei Kinder auf eine andere Schule gehen, da sich die Waldorfschule geweigert hat, mein behindertes Kind aufzunehmen. Dieses ist inzwischen 16 Jahre alt und hat stattdessen eine ganz normale bayerische Regelhauptschule besucht.

Sonja Cordes-Schmid nimmt für sich in Anspruch, auch für Eltern zu sprechen. Sie sagt, Henning Köhlers Kommentar sei »ein Schlag ins Gesicht von Pädagogen, Eltern und Schülern«. Köhlers Kommentar hat auch mich zunächst erschreckt, aber inzwischen habe ich verstanden, dass er uns alle wachrütteln will und dafür danke ich ihm. Angesichts der schönen Sonntagsreden von Politikern über Inklusion wird nämlich gerne übersehen, dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich bei den Inklusionsquoten in allen Lebensbereichen noch immer weit abgeschlagen auf hintersten Plätzen liegen. Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland vor etwa sechs Jahren hat sich in fast keinem Bundesland die Ausgrenzung von Schülern mit Beeinträchtigungen aus den allgemeinen Schulen verringert. Im Gegenteil: In Deutschland wird immer mehr Kindern das Etikett »sonderpädagogischer Förderbedarf« angehängt, wie Köhler richtig bemerkt. Jahrelang war ich in der Elternberatung tätig – unter anderem drei Jahre im Landesvorstand des Bayerischen Elternverbands – und kann bestätigen, dass sich an der grundlegenden Haltung zum Thema »Behinderung« an vielen Schulen, auch solchen, die sich als »inklusiv« bezeichnen, nichts geändert hat und immer noch Kinder in ihren Teilhaberechten am Unterricht eingeschränkt werden.

Aus der Elternberatung kann ich berichten, dass es tendenziell eher so ist, dass alle Kinder mit sogenannter geistiger Behinderung regelmäßig in ihren Entwicklungspotenzialen unterschätzt werden – sehr oft auch von Sonderpädagogen. Dies erklären wir Eltern uns dadurch, dass viele Förderschüler durch fehlende Bildungsangebote und das Fehlen von leistungsstarken Mitschülern in den Sonderschulen tatsächlich ihre Potenziale nicht ausschöpfen können und sich daher bei vielen Lehrern ein falsches Bild über die Entwicklungspotenziale dieser Kinder eingeprägt hat. Immer wieder höre ich, wie erstaunt sich Sonderschullehrer im mobilen Dienst zeigen, was Kinder mit Behinderungen an Regelschulen alles lernen können. Kinder mit Down-Syndrom, die an Regelschulen Schulabschlüsse erreichen, mitunter sogar das Abitur, sind keine Einzelfälle. Ich könnte sehr viele Beispiele dafür nennen, wie Gutachten von »externen Experten« die Eltern immer wieder massiv in Erklärungsnot gegenüber Behörden und Einrichtungen gebracht oder gar zur Verwehrung der Unterstützungsleistungen geführt und die Inklusion des Kindes unnötig belastet haben.

Gerade Waldorflehrer sollten daher zusammen mit den Eltern behinderter Kinder dafür eintreten, dass die veraltete defizitorientierte Statusdiagnostik externer Experten weiter zurückgedrängt wird zugunsten einer in den Schulalltag eingebetteten lernprozessbegleitenden Diagnostik des Kindes durch den Klassenlehrer und seiner pädagogischen Mitarbeiter und auch der Eltern. Denn jedes Kind ist ganz individuell zu betrachten und die größten Experten des Kindes mit Beeinträchtigung sind die Menschen, die die meiste Zeit mit dem Kind zusammen verbringen. Wir müssen die Inklusion daher »herunterholen« von der Expertenebene und verstehen, was Inklusion laut der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen wirklich meint: Selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen und ein demokratisches Miteinander. In diesem Sinne frage ich bei Podiumsdiskussionen, in denen die Lehrer regelmäßig das Fehlen von Experten an den Schulen beklagen, immer zurück: »Haben Sie sich denn schon mal an einem runden Tisch zusammengesetzt und den Schüler und seine Eltern selbst gefragt?«