Keine Initiation ohne Stress

Knut Johannes Rennert

Die Werbung für den Kammerton a' = 432 Hz empfinde ich als durchaus heikel und problematisch. Das liegt nicht an den vorgetragenen Tatsachen, sondern an deren Auswahl und Bewertung. Zur Urteilsbildung möchte ich einzelne Gesichtspunkte und Fragen ergänzen: 

Die Auswahl von a' = 432 Hz ist keineswegs so eindeutig wie dargelegt, denn diese Schwingungszahl ergibt sich durch den Quintenzirkel mit der reinen Quinte 3/2, ausgehend von c' = 256 Hz. Die musikalische Praxis würde entweder die gleichschwebende Temperatur mit a' = 430,54 Hz oder die Terz-reine Stimmung mit a' = 426,66 Hz vorziehen, was noch deutlich tiefer läge. Dieses Problem ließe sich nicht durch Verschieben des Tones a’ lösen, sondern nur dadurch, dass man c' = 256 Hz zum neuen Kammerton macht.

Doch auch dieses c' = 256 Hz ist zu hinterfragen: Es ergibt sich aus der Potenzreihe der Zahl 2, und alle mit ihm verbundenen Eigenschaften sind zunächst einmal verknüpft mit der besonderen Stellung der 2 als erste und einzige gerade Primzahl in unserem dekadischen Zahlensystem mit 0- und 1-Element. Jedes andere Zahlensystem, von denen es geschichtlich einige gab, und jede andere Zahl ergäben völlig andere Verhältnisse. Zudem ist die Schwingungszahl 256 Hz bedingt durch die Länge der Zeit-Sekunde, welche wiederum von physikalischen und astronomischen Gegebenheiten und der Setzungen unseres Maß-Systems innerhalb der dadurch gegebenen Toleranzen abhängt. Das bedeutet, dass unsere Schwingungszahlen von sehr vielen Bedingungen und (willkürlichen?) Setzungen abhängig sind, deren Bedeutung zu prüfen wäre.

Die dritte Frage knüpft an den Stress an, der durch den Widerspruch zwischen der Stimmung des Ohres, des ganzen Menschen und des Kosmos und der Stimmung der gehörten Musik entsteht. Wenn ich nicht etwas grundsätzlich falsch verstanden habe, gibt es keine Initiation ohne Stress. Und gerade die heutige Initiation der Menschheit, welche zur Entwicklung der Bewusstseinsseele führen soll, beruht ganz entscheidend auf dem Widerspruch zwischen der Seelenstimmung der Menschen und den leiblichen Gegebenheiten, ja der vorgefundenen Schöpfung insgesamt. Aus dem Erleben dieses Widerspruchs kann gerade der Impuls entstehen, sich seelisch-geistig weiterzuentwickeln, welcher für die Menschheit überlebenswichtig ist. Man mag die damit verbundene innere Unruhe und auch die Unruhe in den Klassen für schädlich bzw. für störend halten, doch sind sie auch ein Antrieb des Willens und ein Quell der Kreativität und Wachheit. Meine eigenen Erfahrungen mit tiefer Stimmung entsprechen dem durchaus: Ich fühle mich darin pudelwohl, aber auch etwas gedämpft, und mir fehlt das Anregende, was ich bei neuer Musik, den Schlesinger-Skalen und den Kulturepochen-Stimmungen usw. immer erlebe. Ähnliches habe ich bei Schülern und Erwachsenen erlebt, die sich angenehm beruhigt und wohl fühlen, aber in ihrer Aktivität und Ich-Anwesenheit gedämpft werden. So halte ich, kurz gesagt, die tiefe Stimmung für ein so starkes Heilmittel, dass es rezeptpflichtig sein müsste. In Schule und Musikleben halte ich es daher, wenn man nicht Altes konservieren will, für nur in sehr engen Grenzen einsetzbar.