Polemik hilft beim Thema ADHS wenig

Dorothea Meichsner

Manfred Schulze schreibt, ADHS sei eine erfundene Krankheit. So sehr ich seine allgemeine Gesellschaftskritik und seine Visionen bejahe, teile ich diese Aussage nicht. Ich arbeite als Lehrerin mit körperlich und geistig behinderten Kindern und bin täglich mit diesem Thema konfrontiert. Sicher muss man zwischen den nur vermeintlichen ADHS-Kindern unterscheiden, die sich gegen schulische Verhältnisse auflehnen, den Aufmerksamkeitsstörungen und Unruhezuständen, die durch den psychischen Druck in zerrütteten Familienverhältnissen entstehen, und denen, die im Kind selbst angelegt sind (und auch bei sehr guten Lebensverhältnissen auftreten) – es ist zum Beispiel auch eine erbliche Komponente nachgewiesen.

Meiner Erfahrung nach ist nicht der Schulleistungsdruck der Auslöser – den haben wir an unserer Schule für Geistigbehinderte gar nicht. Die Auffälligkeiten treten typischerweise schon im Kindergartenalter auf – und zwar auch in einem wenig leistungsorientierten, behüteten Umfeld. Selbst in Stammeskulturen sind derartige Kinder beobachtet worden; sie können besser damit umgehen, weil die betroffenen Kinder viel im Wald herumlaufen; meist sind sie gute Kämpfer und Bogenschützen. Die Auffälligkeiten treten nicht nur im »Sitz- und Belehrungsunterricht« auf, sondern auch im Schulgarten oder in der Holzwerkstatt, ja sogar im freien Spiel – und auch, wenn die Kinder eigentlich motiviert sind. Sie können einfach nur kurze Zeit bei sich und ihrer Tätigkeit bleiben, sind sehr ablenkbar, können schlecht warten und geben oft schnell auf, wenn etwas mühsam wird. Die Frage ist: Hat das »Syndrom« auch positive Seiten? Zum Beispiel intensives Lebendigkeitsgefühl, schnelle Reaktionsfähigkeit oder das Wahrnehmen vieler für uns nebensächlicher Details? Gibt es einen Platz, wo das Kind, so wie es ist, zurecht kommt und sogar seine Stärken nutzen kann? Den gibt es auch in der Waldorfschule kaum – da ist zum Beispiel ein ruhiger Zehn-Minuten-Morgenkreis schon zu viel. Hier – im Umgang mit der Vielfalt – ist die Gesellschaft wirklich gefordert! Aber das hieße dann wohl, den klassischen Großgruppenunterricht abzuschaffen – ab sieben Kindern poten­ziert sich die Reizüberflutung. Von einer Lösung sind wir noch weit entfernt.

Die Gabe von Medikamenten (Ritalin) wird in Deutschland nicht mehr so leichtfertig gehandhabt. Wenn aber das Kind unter seiner eigenen Unruhe leidet, durch seine Impulsivität und Unstetigkeit die Beziehung zu Menschen und Handlungen verliert, dann kann das Medikament sogar vom Kind als hilfreich empfunden werden – natürlich immer nur als Ergänzung zu anderen Hilfen. Für praktische Tipps und nützliche Erfahrungen hierzu sind die Betroffenen dankbar. Polemik hilft wenig. ‹›

Zur Autorin: Dorothea Meichsner ist Lehrerin im Förderzentrum für Körperbehinderte in Dresden.

Manfred Schulze: »ADHS« – eine erfundene Krankheit