Selbstbestimmtes Lernen geht doch

Gabriele Kühn

Ich lese die »Erziehungskunst« als Waldorf-Mutter und frage mich: Warum immer wieder Artikel gegen selbstbestimmtes Lernen? Sie erscheinen mir wie eine Selbstschutz­reaktion. »Ein neues Gespenst geht um« – ist das sachliche Auseinandersetzung? Vor den Gefahren der »neuen Lernkultur«, wie Abschaffung des Lehrers, Computerisierung oder neue Fremdsteuerung, kann man warnen, aber eine solche extreme Entwicklung will wohl kein Pädagoge.

Auf der anderen Seite birgt eine Pädagogik, die selbstbestimmtes / selbstverantwortliches Lernen ablehnt, ebenfalls Gefahren: zum Beispiel Autoritätshörigkeit, Passivität oder Lernblockierungen.

Viele Waldorfschulen bieten (zumindest bis zur Oberstufe) nur Frontalunterricht an, bei dem die Differenzierung nach Interessen, Lernstand und Lerntempo gegen Null geht. Alle machen zur selben Zeit dasselbe. Dem Ideal nach freiwillig, aus Begeisterung – aber das ist oft genug eine Illusion. In dem Falle führt diese Unterrichtsform zu Schulunlust, Unter- oder Überforderung, Kreativitätsverlust, Aggressionen und Gleichmacherei. 

Trotz Verzichts auf Zensuren sind die Waldorfschüler, die ich erlebe, sehr normorientiert; ihnen wird durch die Unterrichtsform nicht vermittelt, dass jeder anders ist und sein soll. Integration von Kindern mit Lern-Behinderungen ist so kaum möglich. Die Waldorfpädagogik hat an diesem Punkt ein ernsthaftes Problem, das sie angehen muss. Michael Harslem und einige Vorreiter-Waldorfschulen packen es schon an. Wann folgen die anderen? Wann beginnt die breite Diskussion und der Erfahrungsaustausch über »selbstverantwortliche Lernformen« in der »Erziehungskunst«?

Ich bin selbst Lehrerin und weiß, wie motivierend für Kinder Stationen-, Werkstatt- oder Projektunterricht ist. Er ist für jene, die frontalen Unterricht nicht mögen, ein Lichtblick. Sie arbeiten im eigenen Tempo, wählen selbst den Schwierigkeitsgrad und dürfen nach Interesse Teilaufgaben auswählen. Es gibt aber auch Kinder, die es lieber frontal mögen. Beide Lernformen können und sollen kombiniert werden und das wird in vielen staatlichen Grundschulen auch gemacht. Und sie sind keineswegs an den Computer gebunden!

Immerhin schreibt Hubert Geißler ja, dass »selbstbestimmtes« Lernen gut funktionieren kann! Aber es sei zu teuer, da kleine Lerngruppen nötig sind, und somit »nicht allgemein machbar«. Es setze zu viel Idealismus voraus. Aber sind die Schulgelder an Waldorfschulen nicht deutlich höher als etwa an Montessorischulen? Werden die großen Waldorfklassen nicht im Fachunterricht geteilt – brauchen also dann auch zwei Lehrer? Und ob Waldorfklassen mit 34 Schülern gut für alle Beteiligten sind, ist die Frage – da ist auch enormer Lehrer-Idealismus nötig. Ich habe selbst in sehr heterogenen Grundschulklassen mit einem Lehrer und rund 25 Kindern, selbstverantwortliche Lernformen erlebt.

Übrigens: Das Schreiben nach Gehör (Lesen durch Schreiben) ist noch gar nicht »auf dem Müllhaufen der Pädagogikgeschichte gelandet«, wie Hubert Geißler behauptet. Nach dieser Methode lernen alle Kinder Schreiben und Lesen, die es sich selbst beibringen, zum Beispiel meine eigenen.

Und in Grundschulen wird die Methode – jetzt allerdings in Kopplung mit analytisch-synthetischen Anteilen – noch erfolgreich für das Lesenlernen genutzt. Es ist nur die Frage: für welche Kinder und wie lange? Intelligentere Kinder, die bald selbst lesen, kommen mit der Methode bestens klar und können die Vorteile nutzen. Schwächere Lerner eher nicht. Und genau dieses differenzierte Fragen und Entscheiden ist es, was wir als Pädagogen brauchen. Kaum eine Methode ist nur gut oder nur schlecht.

Zur Autorin: Gabriele Kühn hat Kinder an der Waldorfschule und arbeitet an einer Förderschule