Verantwortungslos

Christoph Lange

Letzteres kann so nur aus einem sehr verengten Blickwinkel behauptet werden, und dass die Entstehung von Feindbildern nicht einfach monokausal erklärt werden kann, sollte in jedem guten Oberstufenunterricht – und nicht nur da – eine Grundannahme sein. Aufgrund eines Gesprächs mit einem Kollegen der eigenen Uni wird von Ganser umstandslos behauptet, das ehemalige Gebäude 7 des WTC sei »mit großer Wahrscheinlichkeit gesprengt worden«. Dem widerspricht ein fast 90-seitiger wissenschaftlicher Untersuchungsbericht des National Institute of Standards and Technology (NIST), der mit Hilfe von unzähligen namentlich genannten Spezialisten und den Originalplänen und Videoaufzeichnungen verfasst worden ist und im Internet abgerufen werden kann (http://www.nist.gov/customcf/get_pdf.cfm?pub_id=861610).

Dieser schließt eine Sprengung mit guten Gründen aus. Die Existenz dieses Dokuments wird von Ganser unterschlagen. Krudesten Spekulationen (»Wenn das zutrifft, haben wir ein Wahrheitsproblem«) wird so Vorschub geleistet.

Das Interview verbreitet unzumutbare Allgemeinplätze wie: »Wir Christen müssen uns mit gewalttätigen Christen in unseren Reihen kritisch auseinandersetzen« oder »dass in Europa geheime Militäraktionen der NATO durchgeführt werden« und man in der Ukraine »den NATO-Machtraum erweitern und Militärbasen aufbauen« wolle. Hier fehlen entscheidende Momente der Relativierung und Abwägung: Jeder Waldorfschüler der Oberstufe wird (hoffentlich!) einem Satz, der mit »wir Christen« beginnt, widersprechen. Kritische Auseinandersetzung, klar, aber wer sind »wir«? Sind »wir« umstandslos »Christen«? Was heißt das, Christ sein? Sachlicher Rahmen »geheimer Militäraktionen« sind natürlich die Geheimdienste, die zwar in letzter Zeit mit Recht ins Gerede gekommen sind, über die aber jeder souveräne Staat verfügt und die alle genau so, nämlich »geheim« arbeiten. Sonst wären sie keine Geheimdienste.

Und zum letzten Punkt fällt doch zunächst ins Auge, dass in der (man muss mittlerweile sagen ehemaligen) Ukraine ja derzeit nicht die NATO, sondern Russland »Militärbasen« errichtet. Begriffe wie »Staatsterror« und historisierende Vergleiche zwischen sogenannten Verschwörungstheoretikern und frühneuzeitlichen sogenannten »Ketzern« halte ich für höchst begründungsbedürftig und mit Blick auf die Zielgruppe Schule und Schüler für gefährlich. Sachlich deutet die Pauschalität und die mangelnde Begründung der Behauptungen von Ganser, die eine Alleinschuld der USA und der NATO an den gegenwärtigen Krisen in der Welt nahelegen, tatsächlich darauf hin, dass wir es hier mit einem echten »Verschwörungstheoretiker« zu tun haben. Wenn wir solchen Theorien eine Plattform bieten, müssen wir uns nicht wundern, wenn genau solche Verschwörungstheoretiker wie zum Beispiel die sogenannten »Reichsbürger« sich im Waldorf-Milieu einnisten und Bewegungen entstehen, die hochkomplexe Zusammenhänge mit einseitigen, unbegründeten Schuldzuweisungen erklären wollen. Allein der Hinweis von Ganser auf die Nähe unserer »Massenmedien« zur »Propaganda« ist schon Wasser auf die Mühlen des Pegida-Geredes von der »Lügenpresse«.

Ich versuche meinen Schülern gerade in Bezug auf Youtube, das zur Informationsbeschaffung begründbar, weil nicht evaluiert und hochkommerziell, völlig ungeeignet ist, medienkritischen Umgang nahezubringen, und da empfiehlt Ganser zur Entlarvung von »Gewalt und viel Lüge« ausgerechnet »Youtube-Vorträge«.

Ich finde es höchst unseriös, kontraproduktiv und pädagogisch unverantwortlich, dieses Interview in der »Erziehungskunst« zu bringen!

Zum Autor: Dr. Christoph Lange ist Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Offenburg