Vertrauen ist wirklich besser als Kontrolle

Wolfgang Debus

Das ist wirklich eine großartige Sache! Lebendige Schule mit allem Drum und Dran! Aus solchen Schülern solcher Lehrer werden tüchtige Menschen!

Eigenwillige Projekte, besonders solche, bei denen man die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler gewähren lässt, fördern das echte Lernen am allermeisten.

Wenn Schüler alles selbst in die Hand nehmen

Als Achtklass-Spiel nahmen wir uns Anatevka vor. Alle waren von der Idee begeistert. Als aber die Musiklehrerin sich vorbehielt, die Rollen nach den geeigneten Stimmen auszusuchen, moserten vor allem die Schülerinnen. Kurzerhand entschied ich: »Das ist so mit der Musiklehrerin ausgemacht und sie hat eine einleuchtende Begründung dafür: Das Stück steht und fällt mit dem Gesang. Aber ich mache euch den Vorschlag, dass ihr alles andere bestimmt und ich euch nur helfe, wo ihr mich fragt.« Es gab einige Sekunden des Staunens. Da sie aber schon an anderen Stellen erfahren hatten, dass ich ihnen Selbstständigkeit zugetraut und Selbstverantwortung übertragen hatte, ergriffen sie dann sofort das Ruder: Es wurden Verantwortliche gewählt für Kostüme, Bühnenbeleuchtung (musste damals ganz neu eingerichtet werden), Bühnenbau (Bühne musste vergrößert werden), Bühnenbild, Requisiteure, Souffleusen, Regie und Verköstigung während der Proben. Selbstständig holten sich die Schüler Hilfe aus der Elternschaft und von unserem Praktikanten (inzwischen erfahrener Klassen- und Eurythmielehrer), der sich gut in jüdischen Gebräuchen auskannte. Aus meiner Sicht verkörpert er Steiners Vorstellung einer natürlichen, anerkannten Autorität par excellence. Es lief alles perfekt. Sogar die Osterferien wurden selbstverständlich für die Hauptprobenzeit genutzt. Ich war fast überflüssig. Nach vier Aufführungen mussten noch zwei nachgeschoben werden.

Den zweiten Beweis für »Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser« erhielt ich auf der Achtklass-Fahrt. Ab Anfang der 6. Klasse haben wir jährlich eine Klassenfahrt unternommen. Bei der ersten Fahrt war eine Aufteilung und Trennung von Mädchen und Jungen nicht möglich: Es standen drei Gruppenzelte mit je zwölf Plätzen zur Verfügung, und es gab 16 Mädchen und 16 Jungen. Nach einer kurzen Abstimmung mit den begleitenden Eltern (wir wurden von diesen Bedingungen bei der Ankunft nach drei Stunden Fußmarsch überrascht) rief ich: »Verteilt Euch!« Nach einigen hektischen Minuten mit viel hin und her war die Lösung gefunden: ein Mädchenzelt, ein Jungenzelt, ein gemischtes Zelt. Und bis zum Ende der Klassenlehrerzeit blieb es dabei: ob in Schlafsälen oder Zelten – es gab nie eine Anweisung zur Trennung oder einer bestimmten Art der Verteilung. Und es gab bei allen Fahrten selbstverständlich Mischungen. Aus meiner Elternschaft gab es dazu nie Anmerkungen oder Reklamationen. Disziplinprobleme, Alkohol, Rauchen oder Schlimmeres kenne ich von Klassenfahrten überhaupt nicht. Ich habe das auch nie vorher »problematisiert« oder irgendwelche Wenn-Dann-Bedingungen unterschreiben lassen. Als wir dann die Achtklass-Fahrt mit einem Großsegler machten, wusste ich, dass es auf dem Schiff unterschiedliche Kabinengrößen gab – von Zweier- bis Sechser-Kabinen. Und ich wusste, dass es zwei recht enge Mädchen-Jungen-Freundschaften in der Klasse gab. Trotzdem gab ich auf dem Schiff wieder die gleiche simple Anweisung: »Verteilt euch!« Als ich mir anschließend die Belegungsliste zeigen ließ, in die sich aus Sicherheitsgründen alle eintragen mussten, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass bis auf eine Sechser-Kabine alles reine Jungen- oder Mädchen-Kabinen waren. Und in der Sechser-Kabine schlief eine Betreuerin mit, aber keines der offensichtlichen Pärchen. Die Antwort auf meine dezente Nachfrage war: »Nö, wir wollen doch segeln. Und für unsere Mitschüler ist es einfach blöd, wenn wir hier als Pärchen in einer Kabine sind.« (14 Jährige!)

Hausaufgaben wie von selbst

Mein drittes, auch leider erst spätes Erlebnis zum Thema Zutrauen und Selbstverantwortung betrifft Hausaufgaben.

Angeregt durch eine Diskussion in der Erziehungskunst über Steiners Haltung und Aussagen zu Hausaufgaben bin ich eines Tages (im Jahr 1993) in meine 7. Klasse gegangen und habe gesagt: »Ich habe mir überlegt, dass es eigentlich eurem Alter nicht angemessen ist, wenn ich euch dazu verpflichte, zu Hause für die Schule zu arbeiten. Ab sofort gibt es keine Pflichthausaufgaben mehr.« Das Ergebnis war, dass die Schüler mehr zu Hause getan haben als vorher. Wahrscheinlich, weil ich mich in meinem Konzept noch mehr darauf vorbereitet habe, dass alles Wesentliche zum Thema in der Unterrichtsstunde passieren muss und der Nachmittag und die Nacht der »Verdauung« dienen sollten. Wenn ich wollte, dass sie ergänzend zu Hause arbeiteten, musste das durch Anregung, durch das Wecken von Interesse und das Auslösen eines eigenen Forschungsdrangs geschehen.

Wer als Pädagoge einmal erlebt hat, wie segensreich das Vertrauen in die Schützlinge auf den eigenen Nerven- und Energiehaushalt wirkt, wird nicht mehr in beklemmende Autoritäts- und Disziplinsituationen geraten wollen. Und das liegt in unserer Hand.

Ich hatte vor kurzem noch einmal Gelegenheit in der 6. Klasse einer Regelschule sechs Wochen zu hospitieren. Zur Abschreckung kann ich nur jedem Waldorflehrer, auch unzufriedenen Eltern oder Schülern empfehlen, sich einem solchen Stress zu unterziehen: Stunden im 45-Minutentakt, gespickt und gefüllt mit Disziplinmaßnahmen, Kontrollen und Dozieren – das kann nur Resignation oder Opposition bei den Schülern und Burnout bei den Lehrern zur Folge haben.

Zum Autor: Wolfgang Debus war Klassen- und Werklehrer an der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Altona und an der Waldorfschule Ostholstein. Als Pensionist unterrichtet er heute Asylbewerber aus zwölf Nationen in Lensahn.