Elternsein aus Lehrersicht

Christof Wiechert

Rudolf Steiner unternimmt in der »Theosophie« den Versuch, in Worte zu fassen, was die menschliche Seele nach dem Tod erlebt. Nach einer gewissen Zeit in der »Seelenwelt« steigt sie auf in eine Region, die als »Geisterland« bezeichnet wird. In der untersten Region dieses Geisterlandes erlebt der Verstorbene rückblickend wie von außen seine irdische Zugehörigkeit zu einem Erdteil, einem Volk, einem Land, einer Familie, in die er in seinem letzten Leben hineingeboren wurde. Dazu gehört auch, was an Familienleben und -liebe erfahren worden ist und was im späteren erwachsenen Leben an Familienliebe und -leben gelebt wurde. In jener Region erlebt die Seele Bereicherung und Vervollkommnung, wenn dieser Bereich für sie im Erdenleben Bedeutung hatte. Es gibt auch Biographien, in denen dieses Lebensgebiet eher eine untergeordnete, manchmal sogar gar keine Rolle gespielt hat. So erlebt die Seele im »Leben« nach dem Tod auf jeder Stufe des Geisterlandes die Entsprechungen der irdischen Erfahrungen, wenn sie auf der Erde für sie relevant waren.

Dies ist eine bedeutende Erweiterung des Bewusstseinshorizontes: Ich werde gewahr, es gibt Menschen, für die Familienleben und -liebe etwas Selbstverständliches ist, das zum Leben dazugehört, und es gibt Menschen, bei denen das nicht der Fall ist, die sich mit Familienleben und Freundschaften eher schwertun, oder denen dies nicht wichtig ist, da sie andere Prioritäten setzen. Sie haben andere Aufgaben im Leben.

An anderen Stellen schildert Steiner die geistige Region des Familien- und Freundesleben als die Region der Venus. Manche Seelen ziehen durch diese Region, als hätten sie nichts damit zu tun, andere verweilen lange in ihr, denn die entsprechenden Erlebnisse waren ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Es ist nicht unsere Aufgabe, das damit Ausgesagte zu werten. Es sind Schicksals-Tatsachen, die in sich und für sich ihre Bedeutung haben: für den einen ist das Familienleben ein bedeutender Bestandteil des Lebens, für den anderen eher eine Beigabe.

Im Leben meiner Frau und mir spielte und spielt das Familienleben eine bedeutende Rolle. Nicht nur haben wir zusammen fünf Kinder großgezogen, sondern sind, nachdem alle sich in die Selbstständigkeit begeben haben, ihnen aufs Herzlichste verbunden, was sich in regelmäßiger Kontaktaufnahme und regem Austausch zwischen den Geschwistern und auch den Eltern äußert.

Wir glauben auch, dass wir bei der Erziehung unserer Kinder eine herrliche Zeit durchlebt haben. Die gemeinsamen Ferien, die gemeinsamen Festeszeiten, die musikalische Entwicklung der Kinder, die temporären Schwierigkeiten in der Erziehung der Söhne, das Durchschauen des Seelenlebens des »braven« Mädchens, das von innen ganz anders aussah, als es sich äußerlich zeigte: trotz schwieriger Zeiten standen wir immer zu den Kindern, blieben immer im Gespräch mit ihnen, ohne sie einzuengen –, es war ein einziges schönes Abenteuer, eine große Reise. Zu einer solchen Reise gehören Spielregeln. So eine Spielregel war zum Beispiel, dass meine Frau mir verbot, nachmittags, wenn ich »müde« von der Arbeit kam, die Zeitung zu lesen.

Sie meinte, jetzt ist die Zeit, dich mit deinen Kindern zu beschäftigen. So geschah es. Und bald stellte sich eine Wirkung dieser »Erziehung« ein; nicht der Müdigkeit nach­geben, sondern gerade dann etwas unternehmen, spendet neue Energie. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass Kindererziehen etwas von uns verlangt, was in unserem hoch individualisierten »Lifestyle« nicht mehr zum guten Ton gehört. Es verlangt eine gewisse Opferkraft. Hin und wieder seine eigenen Wünsche zurückzustellen, aber ohne eine Opferrolle einzunehmen, denn eine solche wirkt wie Gift. Auf Aufopferung ist unser modernes Leben nicht ausgelegt, eher auf das Gegenteil: Alles soll der Selbstverwirk­lichung dienen.

Eltern als Lehrer

Ich kam früher also – bevor wir Kinder hatten – oft müde nach Hause, später nach dem Eingriff meiner Frau nicht mehr. Ich hatte einen schönen, aber anspruchsvollen Beruf, dessen Leichtigkeit ich erst entdecken musste: Ich war (und bin) Waldorflehrer  an einer großen Schule in Holland, und wir haben tatsächlich unsere fünf Kinder durch eben diese »meine« Schule gehen sehen. Es gab Zeiten, da hatten wir in jeder Schulstufe, im Kindergarten, der Unter-, Mittel- und Oberstufe unsere Kinder. Die Schule war damals zweizügig, also musste ich nie Klassenlehrer eines meiner eigenen Kinder zu sein. Aber ich traf sie hin und wieder im Fremdsprachenunterricht in den verschiedenen Klassen.

Waldorflehrer und -lehrerinnen schicken ihre Kinder vorzugsweise auf eine Waldorfschule. Und wenn nur eine vorhanden ist, dann eben in die eigene. Es wird ja auch als ein Qualitätsmerkmal der Waldorfschule gesehen, dass die Lehrer ihre eigenen Kinder dahin schicken. Wenn dem nicht so wäre, könnte man ja viele Fragen stellen.

Nun braucht es einige soziale Vorkehrungen und Verabredungen, dass Lehrer, die Eltern sind und Eltern die Lehrer sind, sich nicht in die Quere kommen – man sollte die zwei Welten nicht mischen. Eine Grundregel scheint mir diese zu sein: Wenn man als Lehrer oder Lehrerin tätig ist, sollte man in dieser Zeit und in den Räumen der Schule nicht darauf angesprochen werden, dass man auch Vater oder Mutter ist.

Also nicht: »Mensch, was dein Sohn heute wieder in meiner Klasse veranstaltet hat, das ist ja schrecklich ... «. Man steht hilflos da und ist auch hilflos. Da braucht es ein wenig Takt. Es gab Zeiten, in denen Kinder von Waldorflehrern einen verwahrlosten Eindruck machten und nicht leicht zu führen waren. Mir obliegt es nicht, das letztendlich zu beurteilen, doch ich habe den Eindruck, dass das heute viel besser geht.

Umgekehrt sollte der Kollege, wenn er bei der Arbeit ist, sich nicht als Vater in Angelegenheiten einmischen, die die eigenen Kinder in der Schule betreffen. Wie flexibel kleine Kinder in dieser Hinsicht sind, zeigt eine reizende Anekdote. Als die Schulen noch neu und selten waren, und ein Vater nicht umhinkonnte, seinen eigenen Sohn in der Klasse zu unterrichten, geschah es eines Abends beim Abendbrot, dass das Kind sagte: »Mein Lehrer möchte, dass wir morgen eine leere Streichholzschachtel mit in die Schule nehmen ...«. Papa am anderen Tischende musste schmunzeln …, war er doch dieser Lehrer.

Anders werden die Dimensionen, wenn Folgendes geschieht. Eine sehr erfolgreiche Gründungslehrerin einer jungen Schule hat ihre jüngste Tochter bei einem jungen neuen Lehrer in der ersten Klasse. Er ist von seiner Arbeit begeistert, macht vieles richtig, hat aber nicht die Temperamentlage der Gründungslehrerin und (noch) nicht das Geschick, das sie hat. Sie ist so frustriert über den neuen Lehrer, der ihre Tochter »verdirbt«, dass sie die Schule verlässt, die ohne sie wieder von vorne anfangen kann. Der Einwand, sie habe nie das kollegiale Gespräch gesucht, die Schule habe nicht sie beauftragt, den jungen Lehrern zu helfen, verhallte ohne Wirkung. Solche Situationen können nur gerettet werden, wenn alle Teilnehmer an solchen »Dramen« dies wollen. Ein anderes Problem ist die Verbitterung, die in Eltern- oder Lehrerseelen auftritt, wenn die eigenen Kinder an der »eigenen« Schule nicht die Zuwendung bekommen, die man sich erhofft, man die Unzufriedenheit »um des Friedens willen« aber hinunterschluckt. Zwischen diesen Beispielen gibt es alle denkbaren Abstufungen. Eine gute Gewohnheit ist es, wenn der betreffende Kollege oder das Elternteil nicht dabei ist, wenn sein eigenes Kind in der Schülerbesprechung besprochen wird. Außerdem hatten meine Frau und ich die Verabredung, dass nur sie Elternabende besucht; das schaffte Freiraum für beide Seiten.

An großen Schulen, die mehrzügig sind, kann man einen erfahrenen Lehrer mit einem jungen in der ersten Klasse mit der Auflage zusammentun, eng zusammenzuarbeiten und miteinander zu unterrichten, so dass Einheitlichkeit im Auftritt entsteht und die Eltern nicht oder kaum bemerken, wer jetzt der Erfahrene ist und wer der Neue.

Erfüllung im Beruf und zu Hause

Der »Erfahrene« wird dann (hoffentlich) auch entdecken, dass er noch lernfähig ist.

Überhaupt ist das völlige Engagement in dem, was man in und an der Schule tut, der beste Garant dafür, dass es einem auch zu Hause gut geht. Wer erfüllt von der »Arbeit« kommt, ist daheim besser drauf, als wer mit Frust oder voller halbbewusster Vorwürfe zu Hause erscheint. Es wird rasch deutlich, dass man dem Partner schuldig ist, so nach Hause zu kommen, wie man es sich selber von ihm erhofft.

All diese kleinen Haltungen führten bei meiner Frau und mir dazu, dass wir selten oder nie Gespräche über das an sich schon abstrakte Thema »Beruf versus privat« zu führen hatten. Unser Leben mit den Kindern und der Beruf waren eine Einheit, gerade weil wir die Berührungsflächen sorgsam trennten. So achteten wir bei Tisch darauf, dass aus dem Schulleben von mir nur das berichtet wurde, was Kinderohren hören konnten. »Insiderwissen« über Kinder oder Schüler ist für die Kinder eine Belastung und für deren Sozialverhalten eine Zumutung.

Wenn der Partner aufgrund der Beanspruchung durch den Beruf viel alleine ist, ist es wichtig, dass er den anderen gut informiert und man sich Zeit nimmt, gegenseitig die Erlebnisse des Tages mitzuteilen. Geschieht das, sind Ungleichgewichte zwischen Arbeit und häuslichem Leben erträglich, so wie sie ja auch in anderen Berufen auftreten, zum Beispiel beim Arztberuf.

Man sollte in diesem Zusammenhang nie vergessen, dass es auch in ganz »normalen« Berufen Arbeitszeitüberschreitungen gibt, die alle mittragen müssen, der Lehrerberuf steht da noch relativ auf der sicheren Seite.

Rückblickend sagen unsere Kinder nicht, »Papa war nie da«. Was in ihrer Erinnerung präsent ist, ist das, was meine Frau forderte: Wenn ich da war, war ich für die Kinder, für die Familie da, und das hat gewirkt.

Grundlage und Ziel: Lebenskunst

Zunehmend ist zu erleben, dass der Beruf des Erziehungskünstlers eine Grundlage braucht. Man kann diese Grundlage Lebenskunst nennen. Das Leben zu führen im Sinne der eigenen Biografie wird mehr und mehr zur Kunst. Eine Kunst, die man irgendwie beherrschen muss, vor allem, wenn man Lehrer werden will. Diese Lebenskunst als Grundlage der Erziehungskunst gibt einen Boden, der die Frage vergessen lässt: »Hab’ ich auch noch ein Privat­leben?«, denn die Lebenskunst wird die richtigen Gleichgewichte ermöglichen. Man kann die Überzeugung haben, dass das, was Steiner »Bedingungen der Geheimschulung« nennt – und damit nichts anderes als Selbstentwicklung meint –, die Handgriffe hergeben kann, aus denen das Können für diese Kunst entsteht. Diese Bedingungen umfassen ein neues Bewusstsein des Zusammenhangs von Gesundheit und Lebensführung.

Was ist der Stellenwert von Genuss und Askese, von Pflicht und Verantwortung, von Entspannung und Arbeit? Eine weitere Bedingung richtet den Blick auf meinen Zusammenhang mit allen Erscheinungen des Lebens. Die Entdeckung, dass man nicht zusammenhanglos im Leben steht, gibt eine ganz neue Richtung und Kraft. In welchen Zusammenhängen stehen wir? Sind sie Realitäten? Eine dritte umfasst eine Haltung im Sozialen: Bedenke, dass Gedanken und Gefühle Realitäten sind, die auch so wirken.

Die vierte hilft, sich von einem gewissen Schein zu befreien: Das Wesentliche des Menschen liegt nicht im Äußeren, sondern in seinem Inneren. Die fünfte bezieht sich auf das eigene Handeln: Sei deinen Entschlüssen treu! Der Zyklus der Haltungen rundet sich mit dem Erleben des Grundgefühls der Dankbarkeit gegenüber dem Leben ab. Alles, was einem zukommt, gehört zu einem.

Wer diese Haltungen lebt, begibt sich auf den Weg, Lebenskunst zu entwickeln.

Zum Autor: Christof Wiechert war langjähriger Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum. Zuletzt ist sein Buch Lust aufs Lehrersein im Verlag am Goetheanum erschienen.

Literatur: R. Steiner: Theosophie, Kapitel die Drei Welten, IV. Teil, GA 9, Dornach 1987; R. Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, 2. Band, GA 236, 14. Vortrag, Dornach 1988; R. Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Kapitel »Die Bedingungen zur Geheimschulung«, GA 10, Dornach 1982