Wie sich Erziehung im Leben auswirkt

Michaela Glöckler

Wenn sich die Temperaments­ver­fassung eines Lehrers ungehindert am Schüler »entlädt«, kann das zu Krankheitsdispositionen führen, die sich im späteren Leben manifestieren können. Bärbel Walbaum schrieb zu diesem Thema ihre Diplomarbeit am Institut für Waldorfpäda­gogik in Witten-Annen. Ihr Mann, der Internist Dieter Walbaum, versorgte sie mit den erforderlichen Krankengeschichten.

Aus dieser Arbeit geht hervor – was auch dem gesunden Menschenverstand einleuchtet und der Lebensbeobachtung entspricht,

• dass ein cholerisch-agressiver Erziehungsstil die Disposition im späteren Leben erhöht, an Herz-Kreislauferkrankungen zu leiden,

• dass ein phlegmatischer Lehrer habituell Langeweile beim Schüler erzeugt, die sich bei diesem später als Neigung zu Nervosität zeigt,

• dass ein Sanguiniker im Unterricht bei den Schülern die Anlage verstärkt, im späteren Leben über wenig Spannkraft verfügen, da er immer wieder zu Aktivität aufrief und Aufgaben gestellt hat, deren Erfolg er dann aber nicht kontrollierte oder anmahnte, weil die gestellten Aufgaben seinem Bewusstsein bereits wieder entschwunden waren oder er mittlerweile schon zu etwas anderem übergegangen war,

• dass der Melancholiker mit seiner beschwerenden Haltung und der Neigung zum Moralisieren und zum »ins Gewissen reden«,  für die zweite Hälfte der Biographie die Neigung zu Verdauungs- und Stoffwechselstörungen erzeugt. Ein solcher Erziehungsstil erschwert, Eindrücke mit der notwendigen Leichtigkeit einerseits und vollständig genug andererseits zu verarbeiten.

Kindheit und Jugend spiegeln sich im Alter

Auch wenn es wünschenswert wäre, dass man die damit angedeutete Thematik einer primären Prävention oder Gesundheitsförderung in Langzeitstudien untersucht, ist es doch ersichtlich, dass trotz dieses Mangels an externer Evidenz genügend Klarheit über den gesundheitsfördernden Ansatz der Waldorfpädagogik erbracht werden kann. Wie ist dies möglich?

Zum Einen durch das Studium der zahlreichen konkreten Hinweise Steiners zu nahezu allen typischen chronischen Erkrankungen in der zweiten Lebenshälfte und dem Interesse für die Lebensqualität der eigenen Schulzeit und derjenigen Menschen, die man kennt. Hilfreich hierfür ist die von Karl Rittersbacher zusammengestellte vollständige Sammlung der gesundheitlich relevanten Textpassagen aus dem pädagogischen Vortragswerk Rudolf Steiners.

Zum anderen kann durch die Beobachtung von Tatsachen der menschlichen Entwicklung und das Nachdenken über längst Bekanntes diese bedeutsame Auswirkung der Schulzeit auf das spätere Leben nachvollzogen werden.

Da ist zunächst augenfällig, dass die Entwicklungsstadien nach der Geburt in charakteristischer Abfolge verlaufen:

Im ersten Lebensjahr wird die Körperkontrolle und der aufrechte Gang erworben, im zweiten Jahr die Sprachfähigkeit und im dritten das bewusste Denken.

Gedanken haben und merken, dass man sie hat, ist zweier­lei – daher wird das mit dem Denken assoziierte Selbst­bewusstsein in der Regel erst mit dem Beginn der Selbst­­reflexion im dritten Lebensjahr erworben, indem man sich an das »Selbst Gedachte« auch erinnert.

Entsprechend regelhaft verläuft die Entwicklung in den sogenannten ersten drei Jahrsiebten:

• Im ersten Jahrsiebt steht die Reifung der Organe des Nerven-Sinnessystems im Vordergrund, am nachhaltigsten und kompetentesten stimuliert durch körperliche Bewegung, freies Spiel und feinmotorische Aktivitäten.

• Im zweiten Jahrsiebt folgt die Ausreifung der rhythmischen Funktionsordnung des Herz-Kreislaufsystems und der Atmung, die am erfolgreichsten unterstützt werden durch Sprachübungen, Rezitieren von Gedichten, dialogischen Unterricht, rhythmische Übungen im Eurythmie-  und Musikunterricht.

• Im dritten Jahrsiebt reifen die Organe des Stoffwechselsystems (Verdauungsorgane, Leber, Galle, Nieren, hormonelle Gesamtregulation u.a.) und das Skelett erreicht seine Endgröße. Hier sind es die Begeisterungsfähigkeit, die durch den Unterricht geweckt und gefördert werden kann, die Freude an eigenständiger Erkenntnisbildung und Wahrheitsfindung, die die besten Vorbeugungsmittel gegen Regulationsstörungen in diesen Funktionsbereichen sind. Man sieht es den Jugendlichen schon am Gang an, ob sie sich durch aufbauende Gedanken in Bewegung setzen oder durch deprimierende, ob sie geistig ins Leere blicken und »herumhängen«. Die aufrechte Körperhaltung spiegelt zugleich die Qualitäten der inneren »Aufrichtigkeit« und ideellen Zielorientiertheit wider.

Ergänzt man eine derartige Überlegung mit der täglichen ärztlichen Erfahrung, dass diesem Entwicklungsgeschehen in den ersten drei Jahrsiebten ein spiegelbildliches beim Altern jenseits des vierzigsten Lebensjahrs gegenübersteht, so springen einem die von Steiner bewusst gemachten Fakten ins Auge:

• Zwischen 40 und 50 Jahren tritt bei der Frau die Menopause ein, begleitet von einem ersten Alterungsschub des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems, den wir auch beim Mann beobachten können. Die häufigsten Ersterkrankungen in diesem Altersabschnitt betreffen Probleme am Bewegungsapparat – Gelenk- oder Rückenschmerzen, rheumatiforme Schmerzsyndrome – sowie solche der großen Stoffwechselorgane wie Leber, Galle oder Nieren, des Funktionszusammenhangs des metabolischen Syndroms und des damit assoziierten Diabetes Typ 2. Der Typ 1 Diabetes ist überwiegend die Jugendform und primär insulinpflichtig, der Typ 2-Diabetes hingegen wird im Leben erworben und bessert sich durch gesunde Lebensweise, so dass häufig auch lange auf die Gabe von Insulin verzichtet werden kann.

• Zwischen 50 und 60 Jahren tritt ein anderer Erkrankungstypus in den Vordergrund. Jetzt haben wir es bei Ersterkrankungen in der Hauptsache mit der Chronifizierung von Lungenerkrankungen zu tun, insbesondere aber mit Herz- Kreislaufproblemen: dem Bluthochdruck,  der koronaren Herzkrankheit, dem ersten Infarkt oder pektanginösen Beschwerden.

• Zwischen 60 und 70 Jahren beginnen nun auch die Nerven-Sinnersorgane merklich zu altern, was zu den damit verbundenen charakteristischen Funktionsstörungen führen kann.

Lässt man dies auf sich wirken und bedenkt zudem die Tatsache, dass alle Menschen in dieser Abfolge altern, jedoch nicht alle notwendigerweise erkranken müssen – dann liegt die Frage nahe, ob nicht durch die Art der Erziehung – der »Inkarnation« – auch die Art der »Exkarnation«, die mehr oder weniger gesunde Alterung, beinflusst werden kann.

Erziehung wirkt auch über ein Leben hinaus

Ob Erziehung die adäquate Präventivmedizin ist für die typischen Erkrankungen der zweiten Lebenshälfte?

Steiner ist hier sehr deutlich: Je harmonischer und altersgerechter die Erziehung und damit die Begleitung der Inkarnation, umso gesünder und harmonischer der körperliche Alterungsprozess. Dass dies tatsächlich für die tägliche ärztliche Erfahrung auch so erscheint, kann zur wissenschaftlichen Nachprüfung anregen, in jedem Falle aber für die Lehrerbildung ein Ansporn sein, Pädagogik als gesundheitsfördernden Entwicklungsprozess zu begreifen.

Im sogenannten »Heilpädagogischen Kurs« sowie in den Vorträgen »Vor dem Tore der Theosophie« und »Die Theosophie des Rosenkreuzers« erweitert Steiner diese Betrachtung noch über die Grenzen eines Erdenlebens hinaus. Er geht dabei von der ebenfalls alltäglichen Erfahrung aus, dass das, was der Mensch in seinem wachen Ich-Bewusstsein erlebt, eine Wirkung auf sein Gefühlsleben hat. Dieses beeinflusst die Lebensbefindlichkeit, was sich dann wiederum auf die Verfassung des physischen Leibes auswirkt. Dabei wird deutlich, dass das, was man bewusst verarbeiten kann, positiv auf die Gefühlstimmungen zurückwirkt, wohingegen unverarbeitete »Komplexe« das Gefühlsleben belasten. Trägt man eine solche Belastung schlimmstenfalls unver­arbeitet, unaufgelöst durch sein Leben und nimmt sie mit über die Todesschwelle, so erscheint diese Belastung im folgenden Erdenleben als Seelengrundstimmung, die man nicht in diesem Leben erworben hat, sondern von vorneherein »mitbringt«. Es kann dies in Form einer deprimierten Grundstimmung sein, einer inneren Leere, eines verborgenen Hassgefühls oder der Neigung zu Misstrauen oder Gleichgültigkeit einem nahen Menschen gegenüber. Gelingt es nun durch die Gestaltung der erzieherischen Prozesse und sozialer Interaktionen in Kindergarten und Schule, dem Kind bei der Überwindung dieser Charakteranlage zu helfen, kann sich diese Schicksalswunde schließen und heilen. Gelingt dies nicht und kann auch das weitere Leben nicht zu einer Verwandlung führen, so wird die Problematik im darauf folgenden Erdenleben als funktionelle Störung in der Lebensbefindlichkeit manifest, das heißt  als funktionelle Krankheitsdisposition des Körpers. Diese kann wiederum weitgehend durch erzieherische Mittel behoben werden oder aber sich durch pädagogisches Fehlverhalten verstärken. Gelingt es dann auch während des weiteren Lebens nicht, durch den Erwerb guter Gewohnheiten oder eines gesundheitsfördernden Lebensstils dieser »schwachen Stelle« entgegenzuwirken, tritt sie im darauf folgenden Erdenleben als angeborene Krankheit zu Tage.

Schule als Lebensraum zu begreifen, in dem Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird, Erziehung in Selbsterziehung übergeführt werden kann und bei der primären Verarbeitung unaufgelöster karmischer, das heißt schicksalsbedingter Belastungen geholfen wird – das ist Auftrag und Ziel der Waldorfpädagogik. Sie kann sich diesem Ziel umso erfolgreicher widmen, je vertrauensvoller sich die Beziehungen im Eltern-Lehrer-Schüler-Dreieck gestalten.

Zur Autorin: Dr. Michaela Glöckler war Kinderärztin am Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke und an der Universitäts-Kinderklinik in Bochum, schulärztliche Tätigkeit in der Rudolf-Steiner-Schule in Witten und seit 1988 Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum.

Literatur:

Bärbel Walbaum: Die krankheitsveranlagende Wirkung des Erziehungstemperamentes im Lebenslauf des Menschen, Institut für Waldorfpädagogik, Witten-Annen 1984
Karl Rittersbacher: Wirkungen der Schule im Lebenslauf, Basel 1975
Matthias Girke: Innere Medizin, Berlin 2011
Rudolf Steiner: Heilpädagogischer Kurs (GA 317), 2. und 4. Vortrag, Dornach 1985
Ders.: Vor dem Tore der Theosophie (GA 95), Dornach 1990
Ders.: Die Theosophie des Rosenkreuzers (GA 99), Dornach 1985
Michaela Glöckler: Begabung und Behinderung, Stuttgart 2004
Dies.: Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung, Stuttgart 2001