Blick nach vorn, nicht zurück. Entwicklungsgespräche machen Textzeugnisse überflüssig

Kilian Hattstein-Blumenthal

Das massive Unwohlsein beim Schreiben von Textzeugnissen hat vor sechs Jahren eine Gruppe von Kollegen der Rudolf-Steiner-Schule Berlin zusammengeführt. Indem wir uns darüber aussprachen, woher dieses lange gewachsene Unwohlsein rühren könnte, entwickelten wir unser Verständnis für den gravierenden Unterschied zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung. Letztere, stellten wir fest, wurde an unserer Schule kaum gepflegt. Bei ersterer hatten wir große Fragen an ihre Wirksamkeit – und ein pädagogisch-spirituelles Problem. Auf den Punkt bringt es ein Gedankengang Pietro Archiatis: »Ein Mensch, der sich beurteilt fühlt, wird krank werden … Wir machen uns zu wenig bewusst, wie viel Krankheit entsteht dadurch, dass wir zu sehr die Menschen beurteilen und verurteilen, weil wir Schablonen im Kopf haben, wie ein Mensch sein sollte, und was er tun sollte … Wenn jeder Mensch ganz anders ist, habe ich überhaupt keine Möglichkeit zu wissen, was für den anderen gut ist. Was für dich gut ist, das kannst du nur allein wissen.« – Schüler ab Klasse 1 wissen ganz genau, wie gut sie in der Schule sind und wo sie Hilfe brauchen – man muss sie nur danach fragen! Für uns als Lehrer und Eltern geht es also darum, die Selbsteinschätzung der Schüler in einem altersgerechten Prozess durch die gesamte Schulzeit zu begleiten.

Wir verstanden nun besser, warum wir uns beim Zeugnisschreiben so unwohl fühlten. Wir erkannten die beängstigend bleichen Gesichter aller Kollegen am Ende jeden Schuljahres als Symptom: Fremdeinschätzung macht krank. Auch uns selber! Zur Lösung des Problems fanden wir dann eine uns wunderbar neu motivierende Aussage bei Rudolf Steiner: »Der Lehrer müsste sich ebenso schlechte Noten geben wie dem Schüler, wenn der Schüler etwas nicht kann, weil es ihm … nicht gelungen ist, es ihm beizubringen«. Das antwortete er auf die Frage: Ob man Zeugnisse geben solle. »Zeugnisse? Wozu?« fragte Steiner. Die seien unnötig, meinte er. Nötig ist etwas ganz anderes: »Es würde also im ganzen Unterricht die Beurteilungssucht, die der Lehrer sich dadurch anerzieht, dass er jeden Tag Noten ins Notizbuch notiert, umgedreht werden in den Versuch, in jedem Momente dem Schüler wieder und wieder zu helfen und gar keine Beurteilung an die Stelle zu setzen.« Auch Steiner sah also das Problem im Beurteilen an sich. Und er benennt die Krankheitsform präzise: »Beurteilungssucht«! Das Beurteilen entfernt den Lehrer von seiner pädagogischen Wirksamkeit, dem oben beschriebenen täglichen, konkreten Helfen, weil er, »jeden Tag Noten ins Notizbuch notiert«. Entscheidend wurde für uns die Verbindung, die Steiner zwischen Lehrer und Schüler herstellt. Nicht nur der Schüler wird durch das Beurteiltwerden krank, sondern auch der Lehrer durch das Beurteilen. Indem »nun gar keine Beurteilung« gegeben wird, können wir uns auf den Vorgang konzentrieren, »in jedem Moment dem Schüler wieder und wieder zu helfen«. Nehmen Sie das bitte mal kurz wirklich ernst: »Jeden Moment«, »wieder und wieder«: »helfen«! – Da bleibt wirklich kein Platz zum Beurteilen – und wir kommen in eine völlig neue Beziehung zu unseren Schülern.

Textzeugnisse sind ein Missverständnis

Wie kam es aber von dieser Ausgangslage zu den noch immer als große pädagogische Innovation gefeierten Textzeugnissen an den Waldorfschulen? Zwei Jahre nach seinem erfrischende revolutionären Vorschlag »gar keine Bewertung« zu geben, berichtet Steiner von der nunmehr gängigen Praxis: »Das Kind bekommt … allerdings ein Zeugnis. Da steht aber eine Art vom Lehrer ganz individuell für das Kind verfasstes Spiegelbild drinnen, etwas Biographisches über das Jahr … Und dann lassen wir einen Spruch folgen«, der »bildet dann für das nächste Jahr eine Art Lebensbegleitspruch«. Auch hier sind also keine Bewertungen vorgesehen. Das »Spiegelbild« wird nicht aus schulischen, sondern aus biographischen Beobachtungen »für das Kind« – nicht etwa für die Eltern! – verfasst. Dass das in der Praxis meist anders gehandhabt wird, stellt ein gravierendes Problem dar. Das biographische Spiegelbild gibt den Blick zurück. Es macht nur Sinn in Verbindung mit einem Blick nach vorne: dem Zeugnisspruch, an dem dann im ganzen neuen Schuljahr weiter gearbeitet wird.

Halten wir fest: Der Grundgedanke der Waldorf-Einschätzungskultur ist, Steiner folgend, das Weglassen aller Beurteilung. Diesen Anspruch verfehlen die Textzeugnisse komplett, die im überwiegenden Teil aller von mir evaluierten Beispiele mehr oder weniger gelungen formulierte Notengebungen sind. Textzeugnisse, in denen Kinder anhand ihres schulischen Verhaltens und ihrer schulischen Leistungen »charakterisiert« werden, haben mit »Waldorf« nichts zu tun. Sie sind ein Missverständnis. Und sie produzieren Missverständnisse. Ein Elternteil auf einem unserer Feedback-Elternabende sagte dazu: »Die Textzeugnisse waren unklar und warfen mehr Fragen auf, als sie beantworteten. Das fanden auch unsere Kinder.«

Gespräch statt Zeugnis

Was war zu tun? Unsere Kernidee lautete: Statt Zeugnisse zu schreiben, wollen wir mit den Menschen sprechen! Nun sind Lernstandsgespräche mit Eltern und Schülern an vielen Schulen bereits Standard. Da haben die Waldorfschulen, sich auf der bald hundertjährigen Routine der Textzeugnisse ausruhend, die Entwicklung der Pädagogik hin zum Dialogischen schlicht verschlafen. Es war für uns aber klar, dass, wenn wir in Gespräche einsteigen wollten, die Forderung, darin keine Bewertung zu geben, eingelöst werden musste. Also keine »Lernstands«-Gespräche, sondern: Entwicklungsgespräche. Und vor allem: wirkliche Gespräche, keine Lehrer-Mitteilungs-Veranstaltungen mit anschließender Nachfragemöglichkeit für die Eltern. Dazu: gemeinsame Betrachtung des Kindes auf menschenkundlicher Grundlage. Und natürlich: In den Gesprächen soll wirklich ein biographisches Bild des Kindes entstehen. Wenn möglich, sollte das Gespräch selbst, wenn das Kind daran teilnimmt, ein kleines biographisches Motiv der Besinnung und des Neuanfangs in seinem Leben werden können.

So entstand das, was wir heute den »Prozess der Dialogzeugnisse« nennen. Dieser beginnt mit Fragebögen, Notizzetteln und der meditativen Vergegenwärtigung des Kindes durch den Lehrer. Er gipfelt in einem genau geplanten und mit einem besonderen Bewusstsein geführten Gespräch von einer Stunde Dauer. Aus diesem gehen Protokolle in ganz unterschiedlicher Form hervor, die auch als Zeugnisersatz herausgegeben werden können. Sie müssen allerdings im Konsens gefundene Fakten enthalten – und vor allem konkrete, von allen Seiten gewollte Vereinbarungen zur Verbesserung! Die leitende Frage im Gespräch lautet immer: »Wie wollen wir das verbessern?« Vorschläge sollen von allen Beteiligten kommen, die Verantwortung wird als eine gemeinsame angenommen. Die Schüler erleben nun einen Gestaltungsraum, wo sie früher nur Empfänger von Fremdeinschätzungen und Fremdanweisungen waren. Eine aus Selbsteinschätzung geborene Aktivität hat eine andere Tragweite als eine aufgenötigte. Vernunftgründe sind schwache bis kontraproduktive Lernmotivationen. Was wirklich zählt, ist echter Wille – denn »was für dich gut ist, das kannst du nur allein wissen«. Eine Schülerin schreibt in ihrem schriftlichen Rückblick auf das Entwicklungsgespräch: »Ich war davor ziemlich aufgeregt, aber dann ging es. Ich glaube, dass mir das Zeugnisgespräch ziemlich viel gebracht hat. Am meisten die Hausaufgabenbetreuung, die mir ziemlich viel Spaß macht und wobei ich eine Menge lerne«.

Am dialogischen Prozess sind alle beteiligt

Um den Prozess der »Dialogzeugnisse« lebendig und individuell frisch gestaltbar zu erhalten, schließt ihn ein ausführliches Feedback aller Beteiligten ab. Schüler, Eltern und Lehrer können so durch die Rückmeldung ihrer Erlebnisse und Erfahrungen zur Verbesserung des Prozesses im nächsten Jahr beitragen. Eine grundlegende Erkenntnis des Dialogzeugnisprozesses war für uns, dass die genaue Planung des »Settings« (also der Frage, wer bei dem Gespräch wie lange anwesend ist und welche Fragen in welchem Zeitumfang besprochen werden) von großer Bedeutung sind. Ausgewogenheit und Zielorientierung verlangen von allen Beteiligten ein hohes Bewusstsein davon, wie sie sich im Gespräch verhalten; das oben erwähnte »besondere Bewusstsein« besteht in diesem achtungsvollen Einander-Gegenübertreten. Gespräche, die mit der inneren Gebärde der Achtsamkeit aller Beteiligten geführt werden, können beglückend sein.

Die Gespräche werden je nach dem Alter der Schüler entweder nur mit den Eltern (Unterstufe), oder in einem von Jahr zu Jahr (ab der 4. Klasse) intensivierten, altersgemäßen Einbezug der Schüler geführt. Es gibt Klassenstufen (5-6), in denen die Eltern zwar das Kind im Gespräch mit dem Lehrer »belauschen« dürfen, in denen die Erwachsenen aber ohne den Schüler miteinander sprechen, um eine Situation der »Erwachsenenübermacht« zu vermeiden. Schließlich können die Lehrer in der 8. Klasse und der Oberstufe auch alleine mit dem Schüler (und wenn noch nötig auch alleine mit den Eltern) sprechen.

Ein Elternteil fasste unsere gemeinsame Arbeit mit folgenden Worten zusammen: »Das Entwicklungsgespräch ist eine tolle Chance für Eltern und Kinder. Ich finde es wichtiger als ein Zeugnis. Sein Vorteil gegenüber dem Zeugnis scheint mir, dass es pädagogisch wertvoll ist, weil das Kind mitten drin ist und Eltern und Kinder in einen neuen Austausch über die Schule kommen.«

Zum Autor: Kilian Hattstein-Blumenthal ist Klassenlehrer und Regisseur an der Rudolf Steiner Schule Berlin.

Literatur:

Pietro Archiati: Was macht den Menschen gesund, was macht ihn krank? Vortrag vom 29.4. 2011, CD-Abschrift vom Verfasser | Rudolf Steiner: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge (GA 295), Dornach 1984, S.182 f | Rudolf Steiner: Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens (GA 303), Dornach 1984 S.155 | Zum Thema »Dialogzeugnisse« und »Einschätzungskultur« siehe die ausführliche Darstellung in: Kilian Hattstein-Blumenthal: Liebe, Krieg und Kommunikation – Motivationen zur Erziehung, Futurum-Verlag, Basel 2012