Natürlich oder individuell bestimmt? Zur Entwicklung der Geschlechterrollenbilder

Ulrich Meier

In seinem Buch »Täter« geht der Soziologe Harald Welzer der Frage nach, wie die Männer des berüchtigten »Reserve-Polizeibataillons 45« zu einem nationalsozialistischen Killerkommando werden konnten. Seine Erklärung geht entgegen früheren Ansätzen, die den NS-Tätern eine wie auch immer geartete Bestialität unterstellten, von einer »immanenten Rationalität« aus, mit deren Hilfe die »Direkttäter« einen normativen Rahmen konstruierten, nach dem sie ihre Handlungen an einer mehr oder weniger bewussten moralischen Rechtfertigung ausrichteten. Dabei verwendet er den Begriff »Referenzrahmen«. Übertragen auf das Geschlechterrollenthema bedeutet dies: Ohne es mir klarzumachen, reflektiere und handle ich gemäß einer mir zunächst unbewussten Bezugnahme auf das, was ich mir angeeignet habe. Dabei erscheint es auf den ersten Blick relativ leicht, die Existenz eines Referenzrahmens für andere Zeiten, Kulturen und Vorlieben zu beschreiben. Was den jeweils eigenen Bezugsrahmen anbetrifft, kann der Versuch unternommen werden, sich das eine oder andere Element der persönlichen Geschichte zu verdeutlichen und anzunehmen, dass die bei anderen anzutreffenden Einseitigkeiten auch in der eigenen Person ihre Entsprechung finden.

Der Philosoph Dieter Thomä führt in seinem Buch »Väter« die aktuelle Diskussion um die Erosion des Vaterbildes auf die geschichtlichen Ereignisse im Umkreis der Französischen Revolution zurück. Bereits seit über zweihundert Jahren, so Thomä, werde die Abwesenheit der Väter in den Familien beklagt. Die für mich einleuchtende Erklärung des Autors: Mit dem Zeitalter der Aufklärung habe sich zunächst das bis dahin gültige Bild des »Vaters im Himmel« aufgelöst. In einem zweiten Schritt wird auch die selbstverständliche Autorität des »Landesvaters« angezweifelt. Dass dabei auch der Familienpatriarch nicht mehr auf Anerkennung und selbstverständlichen Gehorsam zählen konnte, macht die nachfolgende Entwicklung deutlich. Sie ist durch eine Polarisierung gekennzeichnet: Das System Familie leidet seitdem entweder an Überrepräsentanz oder Unterrepräsentanz des Vaters: »Stauraum« oder »Hohlraum«. Die Kinder finden sich entsprechend in der Rolle der Vatermörder oder der Vaterlosen. Was seit dem Beginn der Aufklärung nach und nach verloren gegangen ist, nenne ich das Prinzip der göttlichen Bestimmung.

Vom göttlichen Auftrag zum natürlichen Zweck

Im jüdisch-christlichen Kontext wurde die Tatsache unterschiedlicher geschlechtlicher Identität auf den Bruch der göttlich-menschlichen Gemeinsamkeit durch das Essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, den sogenannten Sündenfall, zurückgeführt. Die Antwort auf den Ungehorsam des mythischen Urmenschenpaares wird im Sinne einer Sanktion als Bestimmung Gottes verstanden. Eva muss sich stellvertretend für die Frauen den Satz anhören: »Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen« (1. Mose 3,16). Adam empfängt für die Männer eine andere Botschaft: »Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens« (1. Mose 3,17). Welche Elemente der Geschlechterrollenbilder wurden daraus abgeleitet? Der Mann soll über die Frau herrschen, nicht auf »weibliche Verführung« hören. Der Frau wird die Mühsal der Schwangerschaft, dem Mann die Mühsal des Broterwerbs zugewiesen. Beide sind verflucht: Der Frau wird der Mutterschoß verflucht, dem Mann der Ackerboden.

In drei unterschiedlichen Sphären lebten sich diese für unsere Kultur bestimmenden Geschlechterrollen aus: Patriarchale Herrschaft und Unterordnung der Frau. Zuweisung der kleinen Welt des Familienhaushalts an die Frau und der großen Welt des Berufs an den Mann. Beide Lebenswelten verpflichten durch den auf ihnen lastenden Fluch zum Ertragen von Mühsal und Schmerz.

Was hier fehlt, sind die biblischen Bezüge zur Sexualität. Sie finden sich in früheren Abschnitten der Genesis, vor dem Sündenfall. Dies führte jedoch in der kirchlichen Morallehre überwiegend nicht zu einer entsprechenden Differenzierung. Im 1. Buch Mose gibt es zwei unterschiedliche Hinweise, die sich auf die Fortpflanzung, aber auch die das Paar betreffende Gemeinsamkeit beziehen. Ich folge hier der Exegese des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer in dessen »Ethik«. Zunächst heißt es in der Bibel bekanntlich: »Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch, bevölkert die Erde …«

(1. Mose 1,28). Später heißt es ergänzend: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch« (1. Mose 2,24). Es gehört zur Tragik der Interpretationsgeschichte der Bibel, dass die Sexualität einseitig unter dem Aspekt der Herrschaft und der Verfluchung gesehen und gelebt wurde.

Im aufkommenden Bürgertum kristallisierte sich ein neuer Schlüsselbegriff heraus, der die weitere Entwicklung der Geschlechterrollenbilder maßgeblich beeinflusste: die Natürlichkeit. Gegen die als »affektiert« bewertete Haltung des Adels wurde nun die Natur, die natürliche Zweckbestimmung der beiden Geschlechter, zur Quelle geschlechtstypischer Verhaltensnormen erklärt. Die Soziologin und Frauenforscherin Irene Dölling beschreibt anschaulich, wie sich dieser Wandel seit dem 18. Jahrhundert vollzogen hat. Noch in der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert spiegelt sich das Diktat der Natürlichkeit zum Beispiel in der Art, wie das Frauenbild in Mädchenbüchern wie »Der Trotzkopf« zur Darstellung kommt: Obwohl in der Erzählung deutlich wird, dass das zunächst unerzogene, »wilde« Mädchen Ilse erst durch die Internatserziehung zu dem damals herrschenden Frauenbild domestiziert wird, geschieht doch alles im Zeichen einer erklärten Natürlichkeit. So wurde der Zwang göttlicher Bestimmung, in den sich die Geschlechter zu fügen hätten, von dem Zwang naturgesetzlicher Gegebenheiten abgelöst, die Frauen und Männern ihre geschlechtsspezi­fische Zweckbestimmung zuwiesen. Immerhin wurde es im Laufe des 19. Jahrhunderts möglich, die unterschiedlichen natürlichen Anlagen nicht mehr unterschiedlich wertzuschätzen. So konnte im Übergang zum 20. Jahrhundert, die bereits 1791 von der Frauenrechtlerin Olympe de Gouges geforderte Gleichberechtigung der Geschlechter zu einer breiten gesellschaftlichen Initiative werden. Die Einsicht, dass auch die Fixierung auf eine vermeintliche Natürlichkeit nur das Konstrukt einer herrschaftlichen Vorstellung über Geschlechterrollen ist, konnte sich jedoch erst mit dem Niedergang der traditionellen Geschlechterstereotypie in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchsetzen.

Von der Übertreibung zur Suche nach individuellen Identitäten

Mit beschwörenden Worten und Zeichen wurde während der Zeit des Nationalsozialismus eine heute als Karikatur empfundene Überzeichnung des Frauen- und Männerbildes in Deutschland betrieben. Die Frau wurde weitgehend auf das Muttersein reduziert. 1938 führte Adolf Hitler den Muttertag ein und stiftete das Mutterkreuz. Bereits 1935 hatte er das Ideal der Hitlerjungen formuliert: »Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl.«

Nach dem verlorenen Krieg und dem Zusammenbruch 1945 spiegelt sich der Zerfall der Geschlechterrollenbilder in den Heimkehrer-Dramen, deren Verfilmungen wie Das Wunder von Bern (2004) oder Hannas Entscheidung (2011) bis heute in der Diskussion nachwirken: War für die Männer das Scheitern ihres soldatischen Lebens und die Rückkehr in den Alltag zu bewältigen, so standen die Frauen vor der Heraus­forderung, sich trotz der in der Zwischenzeit übernommenen Verantwortung für die »Berufswelt« in Frage gestellt zu sehen.

Für beide Geschlechter fehlten zunächst die positiven Bilder, die dem äußeren Wiederaufbau eine innere Balance hätten geben können. Erst die Nachkriegsgenerationen hatten eine größere Chance, sich aus der entstandenen Lähmung zu befreien. Der gesamte gesellschaftlich-kulturelle Wandel in Richtung Vielfalt, die Verbesserung der Familienplanung (besonders durch die Entwicklung der Hormonpille 1961), die Emanzipationsbewegung der Frauen, die Studentenbewegung der 1968er Jahre, die Reform des Ehescheidungsrechts von 1976 – um nur einige Faktoren aufzuzählen – waren Bedingungen für einen gewandelten Referenzrahmen, der einen individuelleren Umgang mit Geschlechterrollenbildern begünstigte.

Die aktuelle Situation in Bezug auf die Geschlechterrollenfindung möchte ich mit dem Begriff des Patchwork kennzeichnen. Er macht anschaulich, dass es heute keine einheitliche, natur- oder gottgegebene Ordnung gibt, der sich Frauen und Männer unterzuordnen haben. Vielmehr muss sich jedes Individuum aus den Versatzstücken existierender Bilder eine eigene Collage schaffen, mit der es sich verbinden will. Ob etwas, das ich in mein Selbstbild integrieren will, bisher als weiblich oder männlich galt, verliert an Bedeutung gegenüber dem Wert, dass ich es für mich verwirklichen möchte. Dass wir trotz der Auflösung alter Geschlechterrollenbilder kein neues Ideal androgyner Unterschiedslosigkeit kreieren müssen, gehört vielleicht zu den jüngsten Errungenschaften im Bemühen um differenzierte Anschauungen. Neben den Religionen der Welt, den differenzierten Wahrnehmungen aus den Naturreichen und den Zeugnissen der Geschichte können auch Psychologie und Philosophie zur Vielfalt der Möglichkeiten beitragen.

Ein Beispiel dazu: Rudolf Steiners Darstellung, dass sich das weibliche und männliche Gestaltungsprinzip des Menschen als makrokosmisches Gegenbild im Weltall finden lässt, hat mich angeregt, Fremdheit als solche zur möglichen Grundlage eines Partnerschaftsmodells zu erklären. Im Anschauen der Eigenart von Kometen auf der einen Seite und dem Mond auf der anderen Seite hat sich mir eine weiblich-männliche Verschiedenartigkeit erschlossen, die mich nicht in ein vorgegebenes Schema presst, sondern mir Mut zur persönlichen Mischung macht.

Zum Autor: Ulrich Meier ist staatlich anerkannter Erzieher und Pfarrer in der Christengemeinschaft. Seit Herbst 2006 in der Leitung des Priesterseminars in Hamburg tätig.

Literatur: H. Welzer: Täter, Frankfurt 2005; D. Thomä: Väter, München 2008; D. Bonhoeffer: Ethik, Werke Bd. 6, Gütersloh 1992; I. Dölling: Der Mensch und sein Weib, Berlin 1991; E. v. Rhoden: Der Trotzkopf, Frankfurt 2012; S. Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, Gießen 1997; R. Moeller: Geschützte Mütter, München 1997; R. Steiner: Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt (GA 118), Dornach 1965; M. Glöckler, U. Meier: Partnerschaft und Ehe, Esslingen 2011