Die Honigschule

Henning Kullak-Ublick, Claudine Nierth

Henning Kullak-Ublick: Diese Zeitschrift heißt »Erziehungskunst«. Findest du, dass das den Kern der Pädagogik trifft?

Claudine Nierth: Ja, sie formuliert zumindest das Ideal, Erziehung wirklich als Kunst zu verstehen.

Genau darauf kommt es doch an, sich nicht an irgendwelchen pädagogischen Rezepten, Richtlinien und Lehrplänen entlang zu hangeln, sondern den individuellen Erziehungsprozess mit dem künstlerischen Auge zu betrachten. Also den höchsten Qualitätsmaßstab eines Gestaltungsprozesses an die Erziehung anzulegen.. Die Quelle des Künstlerischen ist immer das Unmittelbare, das im Jetzt entstehende, das wirklich aus dem Moment heraus Kreierte. Wer die Regeln der Kunst kennt, weiß, dass wahre Schöpfungsmomente fernab jeglicher Willkür und Beliebigkeit liegen. Im Gegenteil, je mehr ich mich der Sache hingebe, in den Zusammenhang vertiefe, desto besser kann ich aus den gewonnenen Erkenntnissen handeln. Das Besondere daran ist ja, dass ein künstlerischer Prozess seine eigenen Gesetzmäßigkeiten hat, z.B. kennt er keine Eile – oder führt etwa eine doppelt so schnell geübte Mozartsonate zu besserem Erfolg? Ein künstlerischer Vorgang entwickelt seine eigene Zeit und zwar genau die, die er braucht. Die Kunst schöpft aus dem Moment. und entwickelt das Sinnhafte im Hervorbringen selbst. Die Kunst fragt nach Stimmigkeit, nach Proportionen, nach innerem Aufbau, nach Verhältnissen, Form und Inhalt usw.

Henning Kullak-Ublick: Du engagierst dich seit vielen Jahren für die Einführung der direkten Demokratie und gehörst zu den Initiatorinnen des »Omnibus für direkte Demokratie«. Hat das etwas mit der Eurythmie gemeinsam?

Claudine Nierth: In Beidem steht der Mensch, der sich Bewegende im Mittelpunkt!

Die Kunst ermöglicht die Erziehung zur Freiheit und die Demokratie die Selbstbestimmung in Freiheit.

Henning Kullak-Ublick: Deine Arbeit ist wesentlich von der Auseinandersetzung mit Joseph Beuys geprägt. Kannst du ihn als Mensch beschreiben?

Claudine Nierth: Joseph Beuys ist für mich einer der letzten großen Meister, der in der Lage war,  Zusammenhänge zu erfassen und Ideen für die gesamte Menschheitsentwicklung zu bilden. Ein echter Künstler.

Ich hatte das Glück, Joseph Beuys in der Kindheit zu erleben. Sein Werk und seine Ideen wurden mir dann in der Oberstufe vertraut.

Henning Kullak-Ublick: Beuys prägte den »Erweiterten Kunstbegriff«. Was meinte er damit und was ist für dich das Entscheidende daran?

Claudine Nierth: Den Gestaltungsprozess auf das Ganze zu beziehen ist das Neue an Beuys, den sozialen Organismus, das gesamte gesellschaftliche Leben als Kunstwerk und gemeinsam zu gestaltende Aufgabe zu erleben - das ist schon revolutionär!

Was würde das denn heißen, wenn jede Tat eine künstlerische wäre, also eine wirklich schöne Handlung sein sollte? Man stelle sich vor, man würde mal seine eigene Biographie von diesem Standpunkt aus betrachten, seinen Lebenszusammenhang, in dem man steht, die Gesellschaft in der man lebt, das Land in dem man wohnt, die Europäische Gemeinschaft, von der man ein Teil ist usw., und stelle sich nur die simple Frage, ob das, was man sieht, stimmig ist. So wie ein Komponist, ein Maler oder Bildhauer sich fragt, ob sein Werk stimmig ist. Der Künstler wird nicht eher aufhören, an seinem Werk zu schaffen, bevor dieser Zustand erreicht ist. Und stimmig ist es immer dann, wenn es mit seiner Bestimmung übereinstimmt.

Henning Kullak-Ublick: Welche Rolle kann ein derart umfassender Kunstbegriff für das Leben an einer Schule spielen?

Claudine Nierth: Im Zentrum der Kunst steht der Mensch als Freiheitswesen. Wie aber schafft man die Bedingungen, in denen sich Menschen und vor allem Kinder zur Freiheit und selbstbestimmten Persönlichkeiten entwickeln können? Das ist die Pädagogische Kernfrage. Diese steht heute diametral zum allgemeinen Mainstream, der eine Leistungspädagogik anstrebt, damit die zukünftige Gesellschaft möglichst effektiv und leistungsorientiert wirtschaftet. Kein Mensch weiß dabei, ob das tatsächlich das Anforderungsprofil von morgen ist.

Entscheidender ist doch, dass wir möglichst viele Menschen haben, die geistesgegenwärtig auf die Probleme der Zeit reagieren können.

Wenn ich den Bildungsgedanken hier ernst nehme, komme ich zu dem Schluss, dass jeder Mensch ein Recht auf seine Aus-Bildung haben sollte, das Recht haben sollte, seinen eigenen Lebensimpuls, mit dem er hier auf der Welt antritt, ausbilden zu können. Das heißt, er braucht die Pädagogen und Eltern, die ihm helfen, seine ureigensten speziellen Fähigkeiten zu entfalten und zu entwickeln. Verzichten kann er gut auf alles, wovon andere meinen, es ihm eintrichtern zu müssen.

Dieser Blickwinkel fordert allerdings nicht die eine Schule, den einen Lehrplan für alle sondern im Grunde die individuelle Schule, den individuellen Lehrplan für den einen! Also die Umkehr der bisherigen Bildungsverhältnisse!

Das heißt, politisch die Voraussetzungen schaffen, die die größtmögliche Schulvielfalt zulassen. Dass man darüber hinaus ein paar allgemeine Standards miteinander vereinbart ist klar, aber die Vielfalt ermöglicht die Zukunft. Im Grunde müsste mit jedem Kind eine neue Pädagogik, eine neue Ausbildungsform, eine neue Lernsituation geschaffen werden. Wenn wir unsere Kinder mit ihren Impulsen und Bedürfnissen heute anschauen, sehen wir, dass sie im Grunde genau das fordern, und zwar weit bis in die Berufsausbildungen hinein!

Die Volksinitiative »Schule in Freiheit«, die du 1996 in Schleswig-Holstein mit der »Aktion mündige Schule« initiiert hast, ist eine Initiative aus der Waldorfbewegung und strebte diese Perspektive an: ein Schulwesen losgelöst von den Fesseln staatlich einheitlicher Vorgaben. Eine Gesetzesgrundlage, die per Volksentscheid in Schleswig-Holstein beschlossen werden sollte. Dies war eine riesige Chance und gerade für die Schleswig-Holsteiner in enger Nachbarschaft mit den skandinavischen Bildungswesen durchaus vorstellbar. Allein das Verfassungsgericht ließ das Volksbegehren wegen des damals noch geltenden Finanztabus (Volksentscheide, die Auswirkungen auf den Landeshaushalt hätten, waren unzulässig) für unzulässig erklären. Schade!

Doch der Omnibus für direkte Demokratie startet diesen Monat eine ähnliche Volksinitiative in Berlin.

Henning Kullak-Ublick: Wie gehen nach deiner Erfahrung junge Menschen auf diese Ideen zu?

Claudine Nierth: Ich beobachte in der Öffentlichkeit zwei Strömungen: die eine, die an bestehenden Systemen festhält und diese eher noch enger und vorbestimmter fassen will und die andere, die bereits spürt, dass sämtliche Systeme, egal ob Bildungssystem, Rentensystem, Versicherungssystem usw. heute nicht mehr tragen und morgen völlig zusammenbrechen werden. Diese Menschen haben geradezu große Lust,  neue Ideen und Lösungen zu entwickeln.

Henning Kullak-Ublick: Was hast du als nächstes vor?

Claudine Nierth: Um es mit Beuys zusagen: »Jeder Mensch hat jeden Tag die Gelegenheit etwas Vernünftiges zu tun!«

Neben meiner Aufgabe, mich weiterhin für die Einführung bundesweiter Volksentscheide bei Mehr Demokratie einzusetzen. Ich  möchte  mit daran arbeiten, in  Bedingungen in unsrer Gesellschaft zu schaffen, die es uns  ermöglichen in Freiheit und selbstbestimmt miteinander leben zu können.