Metamorphosen des Gehens, Sprechens und Denkens

Alain Denjean

Ein dreijähriges Kind, das gerade erst zu denken beginnt, kann man nicht mit einem Satz aus der Hegelschen Philosophie konfrontieren – das leuchtet jedem ein. Doch ab wann kann man das kleine Kind mit Erklärungen über die Welt ansprechen und wie? Offensichtlich entwickelt sich das Denken in Stufen. Genau so ist es mit dem Sprechen und sogar dem Gehen. Unser Leben erleben wir als eine lineare Abfolge von Tagen, Wochen und Monaten. Doch wissen wir aus der Chronobiologie, dass vor allem Rhythmen das Leben bestimmen. Die Verwandlungen und Stufen des Gehens, Sprechens und Denkens kann man am besten verstehen, wenn man sie zyklisch denkt.

Die Anthropologie zeigt, dass der Hauptzyklus für die Entwicklung des Gehens das erste Jahrsiebt ist. Das Gehen­lernen ist hauptsächlich eine Auseinandersetzung mit dem Gesetz der Schwere und eine Angelegenheit des physischen Leibes, solange die Bildekräfte, die die Knochen, Muskeln und Teile des Gehirns modellieren, im Leib tätig sind. Der Hauptzyklus für das Sprechen-Lernen ist das zweite Jahr­-siebt, die Zeit, in der die Bildekräfte zum Teil von ihrer

Tätigkeit am Leib frei werden und für seelische Tätigkeit zur Verfügung stehen. Diese in das Seelische verwandelten Kräfte werden in der Schule in Anspruch genommen. Nicht mehr Nachahmung, sondern Autorität, die mit dem Gespräch, also mit der Sprache und dem Gehorchen (dem Hören) zusammenhängt, ist in diesem Lebensalter die Grundkraft des Erziehens. In diesem Zeitraum blüht die Sprache auf, die schon im ersten Jahrsiebt entstanden ist. Und dann, wenn die freie Urteilskraft vom Heranwachsenden geübt und gehandhabt wird, entfaltet sich das Denken. Obwohl auch das Denken schon vorher in Anspruch genommen wurde, entfaltet es sich erst im dritten Jahrsiebt und erreicht dort seine eigentliche Ausdrucksmöglichkeit. Aber jeder Zyklus – das ist eine menschenkundliche Entdeckung Rudolf Steiners – besteht aus drei kleineren Zyklen, in welchen die zwei anderen Tätigkeiten reifen.

Bis zur Schule

Sobald das Kind sich aufgerichtet hat, steht ihm das ganze übrige erste Jahrsiebt zur Verfügung, um das Laufen, die freie Bewegung und die Motorik auszubauen. Währenddessen aber laufen parallel andere Vorgänge ab, die unmittelbar mit diesen verbunden sind. Das aufgerichtete und sich freier bewegende Kind kann jetzt anders als vorher die Gebärden, Gesten, Haltungen seiner Umgebung innerlich nachahmen. Aus der innerlichen Nachahmung der Stimmung, einer menschlichen Stimme werden Vokale, aus der Nachahmung von Gebärden, die in Gegenständen gleichsam geronnen sind, werden Konsonanten: die Sprache folgt dem Gehen-Lernen. Das allererste Denken kommt bald hinzu.

Im zweiten Drittel des ersten Jahrsiebts differenziert sich die Sprachfähigkeit, bleibt aber in diesem Alter noch prozesshaft. Die Laute, die Artikulation, die Gebärdenkraft der Worte, also das Bildhafte der Sprache stehen im Vordergrund. Die Sprache ist in hohem Maß eine Muskeltätigkeit, die sich aber immer mehr auf den Kehlkopf konzentriert. Nimmt das Kind nicht mit dem ganzen Körper die es umgebenden Prozesse wahr, dann verkümmert seine Sprache. Spielt die moderne technische und mediale Welt in diesem Alter eine zu starke Rolle, dann verarmt der Sprachbildungsprozess und es entstehen die ersten Sprach-, und damit auch seelischen Defizite, denen von Krankenkassen finanzierte Kindergartensprachprogramme abhelfen sollen. Die Sprache nimmt durch die Ansprache der Eltern (nicht Märchen-CD's), durch Sprachspiele, kleine Verse, Lieder, Fingerspiele, Kasperletheater und Spiele, die von sprachlichen Äußerungen begleitet werden, Gestalt an.

In der nächsten Phase, bis zum Ende des siebten Lebensjahres verfeinert das Kind seine motorischen Fähigkeiten und lernt die Sprache innerlich und äußerlich nachbildend weiter. Das Denken spielt nun eine gewisse Rolle, indem am Spiel klare Vorstellungen gebildet werden. Das ältere Kindergartenkind spielt anders als das vierjährige. Das jüngere Kind kommt ohne feste Absichten in den Kindergarten und findet in den Gegenständen um sich herum Anregungen zum Spielen. Ein rechtwinkliges Aststück wird zum Hammer und das Kind spielt heute »Handwerk«. Das ältere kommt am Morgen in den Kindergarten mit der Absicht, heute Zug und Bahnhof zu spielen, und sucht die Gegenstände, die es dazu braucht. Dabei spielt es oft im Selbstgespräch mit Phantasie-Bildern, die sich zu immer klareren Vorstellungen ausbilden. Auch diese sensible Phase des anfänglichen Denkens kann eine verfrühte Verstandeserziehung vergröbern, was Langeweile und ein Absterben der Phantasie zur Folge hat. Durch spielerische Tätigkeit wirkt die motorische Aktivität bis in die Gehirnbildung hinein.

Die Schulzeit: Unter- und Mittelstufe

Das zweite Jahrsiebt ist die Zeit der sprachlichen Entfaltung. In der Schule wird Schreiben und Lesen gelernt – fast alles Lernen geschieht über die Sprache.

Aber das erste Drittel des zweiten Jahrsiebts mit seiner Betonung des tatkräftigen Willens lässt den Lehrer mit der Spracherziehung an die Motorik und die Nachahmung anknüpfen. Es wird zunächst das Schreiben (motorisch) und erst dann das Lesen (kognitiv) gelernt. In den Fremdsprachen spielt sich der Unterricht nur mündlich ab, mit viel Laufen, Springen, Klatschen, Tanzen … Umgekehrt wird das Fach Sport als »Spielturnen« gegeben: die Inhalte der Spiele knüpfen an den Erzählteil des Hauptunterrichts an, und jetzt werden Schüler, die vielleicht noch in ihrem Körper unsicher sind, über die Sprache an die Motorik herangeführt. Heutzutage hat die Verfeinerung der Motorik durch die Sprache für viele Stadtkinder einen fast schon therapeutischen Wert. Die Eurythmie bewegt die Kinder durch die Laute und ihre Bildhaftigkeit: »W« beim Wind, »G« beim Gnom, »Sch« bei der Schlange. Die Bewegungsfreude wird verinnerlicht und bereichert so die Seele. Rudolf Steiner macht darauf aufmerksam, dass im Lauf des zweiten Jahrsiebts das Sprechen des Kindes sich aus einem natürlichen, organisch-physischen Prozess in einen seelischen verwandelt. In der 4. Klasse ist die Bewegung der Lippen beim Sprechen noch eine natürliche, organische Tätigkeit. Beim Achtklässler dagegen muss die Seele mitmachen, der Wille wird im Sprechen bemerkbar. Manche Sprach- und Neurowissenschaftler sprechen deshalb davon, dass sich die Kinder ihre Muttersprache ein zweites Mal aneignen, dieses Mal wie eine Fremdsprache.

Im zweiten Drittel des zweiten Jahrsiebts beginnt sich die Sprache zwischen der Motorik und dem Denken zu entfalten. Der künstlerische Umgang mit dem Sprachlichen erfüllt den Zwischenraum zwischen der sich verinnerlichenden Motorik und dem auflebenden Gedanklichen. Die Grammatik ist als Formenlehre vorwiegend Sprache, aber als Syntax (Lehre vom Satzbau) wird sie zum Ausdruck der in der Sprache lebenden Gedanken. Geht man zu schnell auf die intellektuelle Formsprache, verliert man manche Kinder, die für die große Umwandlung des zweiten Jahrsiebts lange die künstlerische Betätigung am Sprachlichen brauchen. Dass man auch den Alltag mit seinen Gedanken durchdringen muss, ist selbstverständlich, aber solche Gedanken wirken im Unterschied zur Poesie beim Heranwachsenden nicht seelenbildend. Gerade die Schule hat die Aufgabe, diesen künstlerischen Zwischenraum zwischen Gegenstand und Abstraktion zu pflegen.

Der gedankliche Aspekt kommt im dritten Teil des zweiten Jahrsiebts zur Geltung. Manche Eltern atmen jetzt auf. Die naturwissenschaftlichen Fächer wie Physik und Chemie kommen hinzu. Das Kind ist in seiner Seele nun geschmeidig genug, um mit dem Kognitiven umzugehen. Das Denken führt zur ersten Reduzierung des Sprachlichen, das an sich immer redundant ist (vergleiche die Märchensprache der Gebrüder Grimm). Auch die bloße zeitliche Aneinanderreihung wird nach und nach durch komplexere Zusammenhänge ersetzt. Das Kind sagt nicht mehr: »Der Reisende hat das und das und das, dann dies und jenes gemacht …«, sondern: »Nachdem der Reisende dies getan hatte, ging er …« Das gedankliche Element des dritten Jahrsiebts kündigt sich hier im Zeitraum der sprachlichen Fülle an. Die Worte und Laute werden nach und nach »Zeichen für etwas« und verlieren ihren Bildcharakter. Das sieht man in der 6. Klasse an der Algebra, wenn die Buchstaben a, x, y … rein mathematische Zeichen werden. Abkürzungen sind jetzt angemessen: A. L. kann im Kontext für Abraham Lincoln benutzt werden, während man beim Achtjährigen den Namen Hans im Glück niemals mit H.i.G. abkürzen wird. Die Heraus­forderung dieser Zeit ist, dass die Heranwachsenden nicht zu Gehirnmaschinen werden, sondern Menschen, die in die Fülle und Tiefe seelischer Erlebnisse eintauchen. Hoch­begabte Kinder verlieren durch ihre an sich wertvollen Be­gabungen oft diese seelische Tiefe. In diesem Alter liegen die Gefahren in der Stummheit, die leicht zur Stumpfheit wird (Jungen), und in der Schwatzsucht (Mädchen). In der Stumpfheit bleibt der Gedanke vor der Sprache stehen, in der Schwatzsucht bliebt er hinter ihr zurück.

Die Oberstufenzeit und das Jugendalter

Im dritten Jahrsiebt treten bei den Jugendlichen Aktivitäten hinzu, die über den Rahmen der Schule hinausgehen, in denen Gehen, Sprechen und Denken sich weiter entwickeln.

An der Auseinandersetzung mit den Süchten kann man nachspüren, wie eine zweite Verinnerlichung des Gehens vor sich geht. Wohin führen einen die Beine, wonach greifen die Hände? Während das erweiterte Gehen im zweiten Jahrsiebt sich in einer ersten Verinnerlichung in das Seelische der Sprache hinein begab, wird jetzt am Gehen eine moralische Qualität sichtbar. Werden die Schritte des Jugendlichen mechanisch, angepasst, rebellisch, engagiert? Führen sie zur Forschung, zur künstlerischen Betätigung, zum Selbstgenuss? Die Schule kann diese Möglichkeit zur erneuten Verinnerlichung des Gehens aufgreifen, indem sie dem Jugend­lichen beibringt, den Bogen zwischen der Realität und seinen Idealen zu spannen und Schritte zu entwickeln, die man nun Methoden nennt, um zum erstrebten Ziel zu gelangen.

Die Sprache entwickelt sich weiter im Bewusstsein und im Gemüt der Jugendlichen, wenn sie lernen, ihren Gesetz­mäßigkeiten nachzuspüren und diese zu handhaben. Poetik ist nicht das Überbleibsel eines altmodischen Bildungs­ideals, sondern ein Feld der Selbsterfahrung und Selbstvertiefung an der Sprache, die zu einem beträchtlichen Teil bei der Identitätsbildung beteiligt ist. Literatur ist eine Reise in die Selbst- und Welterfahrung am Künstlerischen der Sprache. In all diesen Tätigkeiten erweitert und vertieft sich die immer präsente, denkerische Aktivität. Sie erhebt sich vom subjektiven Denken des Pubertierenden, der nur seinen eigenen Gesichtspunkt nachvollziehen kann, nach und nach bis zum philosophisch und naturwissenschaftlich objektiven Denken, das aus dem Individuum einen Weltbürger macht. In der Waldorfschule bietet das Ende der Schulzeit die Möglichkeit, an der goetheanistischen Betrachtung der Natur wiederum – aber jetzt auf der Stufe des Denkens und nicht des Gemüts – das Objektive mit dem Subjektiven zu verbinden.

Drei Stämme, ein Baum

Mit der Mündigkeit, gegen das 18., 19., 20. Lebensjahr sind die drei Samen des Gehens, Sprechens und Denkens zu den ineinander verschlungenen Stämmen eines Baumes geworden, dessen sich ausbreitendes Laubwerk für ein gesundes Leben in Leib, Seele und Geist steht. Eine weitere Stufe der Entwicklung dieses Seelenbaumes kann man in den rein geistigen Phänomenen der Intuition, Inspiration und Imagination erahnen.

Zum Autor: Alain Denjean ist Französisch- und Religionslehrer in der Waldorfschule Uhlandshöhe (Stuttgart) und Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart. Er berät die deutschen Waldorfschulen im Fremdsprachenbereich.

Literaturangaben: Rudolf Steiner: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, GA 307, Vortrag vom 8.8.1923, Dornach 1986