Müssen alle alles machen? Die Freie Waldorfschule Schwerin reformiert ihre Oberstufe

Stefanie Recht

Bereits vor rund 90 Jahren antwortete Rudolf Steiner auf die Frage, wie man Schülern, die sich vor allem musikalisch ausbilden wollen, die entsprechenden Möglichkeiten bieten könne: »Humanistisches, Realistisches, Künstlerisches. Wir müssten diese Dreiteilung eintreten lassen.«

Tatsächlich hat die Waldorfschulbewegung den Impuls einer »Individualisierung des Lehrplans«, von der Steiner an anderer Stelle spricht, bisher eher zaghaft aufgegriffen. Christoph Bai, Klassenlehrer und Fachlehrer für Kunst und Theater: »Unsere Idee war, den Schülerblick nach dem 16. Lebensjahr auf die eigene Entwicklung und deren aktive Gestaltung zu lenken. Der Name Profilmodell kennzeichnet das Bemühen, den Schülern ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem sie sich in ihrem Leben profilieren können. Als entscheidende Frage ergab sich daraus die Disposition der Fächer.«

»Fächerdisposition« und Integration in den Schulalltag – fast zwei Jahre feilten Henrik Lemm und Christoph Bai an ihrem Projekt und warben um Unterstützung. Im Ergebnis blieben die traditionellen Epochenfächer vollständig erhalten. Auch die als Fachstunden angebotenen Prüfungsfächer für die Mittlere Reife und die Hochschulreife werden vom Schweriner Modell nicht berührt. Jeder andere Unterricht wird einem der vier Profilbereiche Wissenschaft, Kunst, Technik und Bewegung zugeordnet und als Profilkurs angeboten. Dazu zählen auch spezielle Vertiefungsangebote zu den Epochen- und prüfungsrelevanten Fächern.

Die Grundeinteilung des Schweriner Profilmodells

• Epochen- und prüfungsrelevante Fächer:

            Mathematik, Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch,

            Geschichte, Kunstgeschichte, Geographie, Biologie,

            Physik, Chemie

• Wissenschaft: Jura, Wirtschaft, Gesellschaftskunde,

            Kulturgeschichte, Religion, Philosophie, Soziologie

• Künste: Musik, Eurythmie, Kunst, Theater, Film, Tanz

• Technik: Informatik, Videoschnitt, Reportage,

            Elektronik, Holzwerken, Metallwerken, Textil

• Bewegung: Sport, Aerobic, Selbstverteidigung

Für jedes Quartal werden drei Kurse gewählt, über das Jahr also zwölf. Innerhalb eines Bereichs können die Schüler frei wählen, in jedem Bereich müssen sie aber eine gewisse Punktzahl erreichen. Der verbleibende Teil der Jahrespunkte kann beliebig verteilt werden.

Die Kurse werden klassenübergreifend belegt und sorgen somit für eine gute Durchmischung. Die wöchentlichen zehn Stunden Profilzeit teilen sich in jeweils zwei lange Kurse (zwei Doppelstunden) und einen kurzen (eine Doppelstunde) und finden nach Möglichkeit in der fünften und sechsten Stunde statt. Die Schüler führen ein Wahlheft mit Anwesenheitsnachweisen und erhalten zum Quartalsende eine schriftliche Beurteilung sowie eine Note, die in das Jahreszeugnis einfließt. Das Profilmodell startete im laufenden Schuljahr und stellte den Schülern der 10. bis 12. Klasse insgesamt 76 Kurse zur Wahl. Wirtschaftsrecht, Drucken an der Druckerpresse, Videoschnitt: Wie ist dieses Spektrum im Schulalltag umsetzbar? Henrik Lemm, Englisch- und Deutschlehrer: »Einerseits konnte eine Reihe von Kollegen an schlummernde Fähigkeiten und bisher nicht abgefragtes Wissen anknüpfen.« So gebe eine leidenschaftlich gern tanzende Lehrerin einen Kurs »Tango Argentino« oder ein Physiklehrer, der intensiv Kampfsport betreibt, biete Selbstverteidigung an. Der Deutschlehrer weiter: »Andererseits gelang es auch, Experten aus dem regionalen Umfeld zu gewinnen. So konnte das Profilmodell nahezu kostenneutral eingeführt werden.«

Anfängliche Bedenken, das Profilmodell führe zur vermehrten Abwahl einiger Fächer, bestätigten sich nicht. Im Gegenteil, befindet ein Schüler der 11. Klasse: »Seit ich Eurythmie im Profilkurs habe, ist das für mich wie ein neues Fach. Ich habe die Eurythmie durch die ernsthafte, intensiv vertiefende Arbeit für mich neu entdecken können.« Diese Qualität zeigt sich auch an den Ergebnissen der Profilkurse, die am Ende von zwei Quartalen der Öffentlichkeit präsentiert werden. Hier können die Schüler die erworbenen Fähigkeiten in Form von Aufführungen, Ausstellungen und Vorträgen selbstbewusst und eigenständig darstellen.

Eine erste, anonym durchgeführte Evaluation zeigt die spontane Begeisterung der Schüler für das Profilmodell, das größtenteils als Fortschritt angesehen wird. So meint eine Schülerin der 11. Klasse: »Freunde, die dieses Profilmodell nicht an ihrer Schule haben, beneiden mich immer, dass ich so tolle Fächer angeboten bekomme.« Ein Zwölftklässler schreibt: »Ich denke, dass die einzelnen Schüler sich besser in ihren individuellen Interessen entwickeln und fortbilden können. Außerdem müssen sie dadurch selbstständig werden und lernen, sich zu organisieren. Das kann bestimmt nicht schaden.« Auch die Elternschaft der Schweriner Waldorfschule trägt das Profilmodell mit.

Nach den ersten beiden Quartalen sind Henrik Lemm und Christoph Bai zufrieden. Beide hegen die Hoffnung, die Freie Waldorfschule Schwerin mit dem Profilmodell regional bekannter zu machen und Kooperationen mit Institutionen höherer Bildung einzugehen. Dann würden sich nicht nur die Schüler, sondern auch ihre Schule weiter profilieren.

Zur Autorin: Stefanie Recht ist Wirtschaftsjuristin und arbeitet seit fünf Jahren als freiberufliche Texterin für Werbung und PR. Als Mutter von zwei Kindern ist sie bei »Waldorf Schwerin« aktiv.