Mut(h)ige Vorbilder

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser,

als Jakob als 17-Jähriger in den Krieg musste, sprach man von Euthanasie und Eugenik, nicht von Integration, Inklusion und gleichen Rechten von Menschen, die anders oder besonders waren. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft arbeitete Jakob Muth (1927–1993) als Gelegenheits­arbeiter, machte gleichzeitig das Abitur, wurde Volksschullehrer, schließlich studierte er, wurde Professor für Pädagogik und Mitglied im Deutschen Bildungsrat – eine Bildungskarriere, die heute unmöglich erscheint. Vielleicht hat er sich gerade deshalb besonders um jene gekümmert, die einen Weg in die Gesellschaft aus eigener Kraft nicht schaffen. Heute sind viele deutsche Behinderten- und Grund­schulen nach ihm benannt, weil er sich besonders für die Integration behinderter Kinder in das Schulwesen einsetzte. In diesem Jahr wurde erstmals ein Preis, der seinen Namen trägt, an drei Schulen verliehen. Eine davon ist die Erika-Mann-Schule, eine staatliche Grundschule in Berlin-Wedding, an der hochbegabte wie lernbehinderte Schüler gemeinsam lernen. Die 600 Kinder stammen zu über 80 Prozent aus Migranten- und Hartz-IV-Familien. Neun Prozent sind Integrationskinder – also Kinder, die lernbehindert, autistisch oder aufmerksamkeitsgestört sind. Jede Klasse ist in mehrere Leistungsgruppen aufgeteilt – und die Kinder bestimmen mit, auf welchem Niveau sie arbeiten wollen. Das Erfolgsrezept der Lehrer, die immer im Team unterrichten, ist einfach: Sie betonen die Stärken, nicht die Schwächen ihrer Schüler. Und 70 bis 80 Prozent eines Schülerjahrganges erhalten eine Empfehlung für eine weiterführende Schule.

»Was wir hier machen, ist keine Zauberei«, verrät Schulleiterin Karin Babbe, »entscheidend ist das Klima der Wertschätzung und Anerkennung, das die Kinder und die Lehrer beflügelt.« Mit diesem Ansatz leistet die Erika-Mann-Schule Pionierarbeit: Inklusion heißt nicht nur die Integration behinderter Kinder, sondern Integration aller Kinder, gleich welcher Lernbegabung oder -schwierigkeit.

Mit der Anerkennung der UN-Konvention steht das deutsche Schulsystem vor einem epochalen Wandel und hat Nachholbedarf: Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Italien, wo im Schnitt 90 Prozent der behinderten Schüler an eine »normale« Schule gehen, sind es in Deutschland nur 15 Prozent. Eltern behinderter Kinder haben jetzt das Recht, ihre Kinder auf eine Regelschule zu schicken. Was mit dieser Verpflichtung auf die Waldorfschulen und Waldorfkindergärten, die sich immer schon auch dieser besonderen Kinder angenommen haben, zukommt, lesen Sie in dieser Ausgabe.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer