Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg«. Der Psychismus

Mario Betti

Eigentlich bemühen sich sämtliche Weltanschauungen darum, diese beiden Ufer des Seins miteinander zu verbinden. Die einen schauen zwar mehr nach außen – wir haben sie schon erwähnt – und andere mehr nach innen. Und doch gehören sie alle zusammen – weil alles in der Wirklichkeit ineinandergreift. Sie sind wie zwölf Speichen des Sonnenrades der Wahrheit.

Wenden wir uns jetzt Anschauungen zu, die ihre Aufmerksamkeit primär auf die Tiefen der Seele lenken und nicht auf die sinnenfällige Wirklichkeit.

Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg

Der große Denker und Dichter Novalis, Zeitgenosse von Fichte, Goethe und Schelling, schrieb in der Zeitschrift »Athenaeum« Sätze, die auf die Spannweite innerer Welterfahrung hinweisen: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt …«

Novalis, der intensiv Naturwissenschaften studiert hatte, war so genial, dass wir bei ihm die Keime aller zwölf Weltanschauungen finden können. Hier war er eindeutig psychistisch orientiert und, wenn er die Außenwelt als »Schatten- welt« bezeichnet, können wir uns lebhaft vorstellen, wie beispielsweise Materialisten darauf reagierten!

Unsere Seele – unsere Innenwelt – gehört zur Gesamtwirklichkeit des Kosmos, nicht nur die Außenwelt. Und das ganze Spektrum der Psychologie bis in ihre modernsten Spielarten hinein ist Bestandteil des Psychismus. Andererseits ist unsere Seele auch der Ausgangspunkt all unserer Erkenntnisse und Überzeugungen, denn ich bin es ja, der die letztgültige Aussage über einen bestimmten Vorgang, ob seelischer oder materieller Natur, zu machen hat. Insofern gehört zum Psychis­mus auch das verzweigte Gebiet der Erkenntnistheorie.

In seiner Wissenschaftslehre weist J.G. Fichte, dessen Philosophie nicht nur Novalis mit Begeisterung aufnahm, auf diesen Tatbestand mit folgenden Worten hin: »Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgibt, ab und in dein Inneres: ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling tut. Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst.«

Fassen wir zusammen: Was charakterisiert also den Psychismus in seinem Kern? Er umfasst einerseits das gesamte Gebiet der inneren Phänomene: Erinnerungen, Affekte, Träume, Impulse, Ideale – kurzum, alles, was zur Selbsterkenntnis gehört, aber auch die Gedanken, durch die und aus denen die Welterkenntnis entsteht. Denn auch alle äußeren Phänomene, sensorische Erfahrungen, Substanzen und Fakten wollen vom Licht der Erkenntnis durchleuchtet – verstanden – werden. Und Erkenntnis, bei allem äußeren Experimentieren und Simulieren, entsteht in uns. Andererseits gehört zum Psychismus auch die Annahme, die Ahnung oder die Gewissheit einer Weltseele oder eines Weltgeistes, gleichsam als makrokosmisches Pendant zu unserem seelischen Mikrokosmos. Schrieb nicht Goethe in seinem »Eins und Alles«: »Weltseele, komm, uns zu durchdringen! / Denn mit dem Weltgeist selbst zu ringen / Wird unsrer Kräfte Hochberuf …«.

Auch der Psychismus, wie alle anderen Weltansichten, kann also eine religiöse Dimension haben. Vor allem die Mystik gehört in diesen Bereich. Man denke beispielsweise an das göttliche »Fünklein der Seele« Meister Eckharts (1260-1328), durch das eine Vereinigung von Gott und Mensch möglich wird, und man wird ein weiteres Beispiel dieser Weltanschauung haben. Selbst die Kunst kann uns, insbesondere im Expressionismus, die psychistische Tendenz offenbaren, Innen- welten darzustellen, während der Impressionismus das Auge mehr nach außen wendet. Aber beide, da sie im Menschen urständen, gehören zusammen. Denn auch Phänomena­lis­mus und Psychismus stehen sich polar gegenüber – doch ergänzen sie sich, indem der Letztere dem Phänomenalisten die Begriffe liefert, durch die er die Naturerscheinungen verstehen und die entdeckten Gesetze darstellen kann.

Polaritäten integrieren

Es ist nicht immer einfach, diese Bipolarität in allen Fällen auszugleichen. Zur Verbindung dieser beiden »Ufer des Seins« hat Rudolf Steiner mit seiner »Philosophie der Freiheit« einen wesentlichen Beitrag geleistet, der diese Zwölfheit der Perspektiven synthetisiert und im Keim die Anthropo­sophie als Geisteswissenschaft enthält. Eine Hilfe zum Verständnis der sich ergänzenden Weltanschauungen kann die bereits erwähnte Vorstellung eines Rades oder auch einer Uhr mit ihren Ziffern sein. Wenn man bei der »1« Phänomenalis­mus schreibt, dann bei der »2« Sensualismus, und so weiter, in der Folge, die im Januar-Beitrag angegeben wurde, wird man sehen, dass beispielsweise Phänomenalismus-Psychismus und Sensualismus-Pneumatismus diametral entgegengesetzt sind. Es ist hochinteressant, festzustellen, dass zwei zunächst konträre Ansichten doch zusammengehören und es ist eine lohnende Übung, eine Weltanschauung jeweils mit der dazu polaren zu integrieren. Dadurch werden unsere Begriffe beweglich und können uns in das lebendige Gefüge dieses Sonnenrades der Erkenntnis einführen. Diese Beweglichkeit wird uns auch bei der Betrachtung der nächsten Weltanschauungen, Pneumatismus und Spiritualismus eine große Hilfe sein.

Zum Autor: Mario Betti war Waldorflehrer, danach Dozent an der Alanus-Hochschule in Alfter und am Stuttgarter Lehrerseminar. Er ist Autor einiger Bücher. Zuletzt erschienen: »Leben im Geiste der Anthroposophie – Eine Autobiografie«, Verlag des Ita-Wegman- Instituts, Arlesheim 2015