Goethe und Schiller bewerben sich

Martin Carle

Bewegtes Lernen 

Acht Jahre lang führte ich als Klassenlehrer – mit zunehmend schlechtem Gewissen – meinen Unterricht überwiegend lehrerzentriert. Auf der Suche nach neuen Ideen stieß ich 2001 auf das »Bewegte Klassenzimmer«, das damals noch eine Seltenheit an den Schulen war. Bald standen die Bänke in meiner neuen 1. Klasse im Kreis. Die Vorteile der Kreis- und Halbkreisbildung zeigten sich gerade auch in derjenigen Unterrichtsphase, in der ich es zunächst selbst nicht vermutet hätte, im sogenannten Lernteil. Beim gemeinsamen Unterrichtsgespräch richtete sich die Aufmerksamkeit der Schüler auf den gerade Sprechenden (nicht nur den Lehrer), die Interaktion fand dadurch viel stärker zwischen den Schülern statt. Ein atmosphärisch intensives Unterrichtsgespräch konnte so schon frühzeitig entstehen.

Als große Befreiung erlebte ich die Möglichkeit, das Klassenzimmer mit geringem organisatorischem und zeitlichem Aufwand so einzurichten, dass es auch äußerlich jeweils die lehrer- oder schülerzentrierte Unterrichtssituation widerspiegelt, da die Möbel jederzeit umgestellt werden können. Bis in die Mittelstufenklassen ließ ich die Schüler in der Mitte des Kreises auf dem Teppich in Partner- oder Gruppenarbeit sitzen, damit sie zusammen arbeiten konnten. Genauso schnell und unkompliziert ging es umgekehrt: Bei der Erklärung von Mathematikaufgaben an der Tafel bat ich die Schüler ganz nah an die Tafel heran, wo sie dann in einer Art Halbkreis (manchmal auch in Doppelreihen) auf dem Boden oder auf Bänken saßen. Kein Schüler (und es waren deren bis zu vierzig) war damit mehr als zwei bis drei Meter von mir entfernt und gemeinsam bildeten wir eine intensive Lehr- und Lerngemeinschaft.

Differenzierung

Die äußere Form unterstützte das innere Unterrichtsgeschehen. Insbesondere die Beziehungsebene zwischen den Schülern und zwischen Lehrer und Schülern sollte gestärkt werden. Die Sozialkompetenz sollte durch vielfältige Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten, das Entwickeln von Teamgeist, gegenseitige Rücksichtnahme und Umgang mit unterschiedlichen Fähigkeiten vertieft werden. Gleichzeitig wollte ich den Schülern ein Lernen auf differenzierten Lernniveaus ermöglichen und ihre Lernmotivation dadurch stärken, dass es vielfältige eigene Gestaltungsmöglichkeiten des Unterrichtes gab. Mit offenen Lernformen, Partner- und Gruppenarbeiten begann ich ab der 1. Klasse und vertraute den Kindern sukzessive von Jahr zu Jahr ein größeres Maß an Eigenverantwortung für ihr Lernen an. Die Lernprozesse bezogen sich nicht nur auf das kognitive Lernen, sondern integrierten in hohem Maß auch das emotionale Lernen.

Goethe und Schiller erkunden

Conrad van Houten hat im Anschluss an Rudolf Steiner sieben Lernprozesse herausgearbeitet als eine Voraussetzung für ein ganzheitliches und nachhaltiges Lernen: das Wahrnehmen, das Sich-Verbinden, das Verarbeiten, das Individualisieren, das Üben, das Erwerben von Fähigkeiten und das Schaffen von Neuem.

Ich fragte mich: Wie kann ein Mittelstufenschüler in einem Jahr für Jahr zunehmend kopflastiger werdenden Epochenunterricht die Lernprozesse wirklich durchleben – so, dass ihm das Lernen weiterhin Freude bereitet, dass es ihn innerlich und auch äußerlich in Bewegung bringt – jeden Tag aufs Neue? – Das wäre das Ideal. Am Beispiel einer Deutsch-Epoche über Goethe und Schiller in einer 8. Klasse sei dies im Folgenden dargestellt.

Die sieben Lernprozesse

Wahrnehmen: In der ersten und zweiten Woche werden jeden Morgen in Form eines klassischen Lehrervortrages über fünfzehn bis zwanzig Minuten wichtige biographische Stationen aus Goethes und Schillers Leben erzählt, angereichert mit anschaulichen zeitgenössischen Schilderungen und sinnlich-prallen Anekdoten. Die Schüler sitzen dabei im Halbkreis um den Lehrer herum und machen sich auf Schreibblöcken Notizen.

Sich Verbinden: Jeden Morgen werden zugleich in Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit vier ausgewählte Balladen der beiden Dichter erarbeitet. Die Schüler bekommen in der Reihenfolge ihrer Anordnung im Kreis je eine der vier Balladen zugeteilt, lesen sie durch und suchen zunächst nach ihrem Lieblingswort. Danach stellen sich alle im Kreis auf, drehen sich um und lassen ihr Wort zum ersten Mal erklingen. Anschließend wird mit diesen Wörtern im Kreis spielerisch-lautmalerisch improvisiert. Die Schüler bewegen sich in verschiedenen Tempi, Formen, Temperamenten und Seelenstimmungen durch den Raum, die Wörter werden zu Wortketten und in kleinen improvisierten Geschichten neu zusammengefügt. In Gruppen lernen die Schüler ihre eigene Ballade Stück für Stück auswendig. Ergänzt wird die Arbeit durch eine kurze chorische Phase am Ende dieser jeweils zehn- bis fünfzehnminütigen Arbeit.

Verarbeiten: Jeweils vor dem neuen Lehrervortrag wird das am Vortag Gehörte von allen Schülern aktiv erinnert. Nach einer kurzen stillen Besinnungspause für jeden einzelnen Schüler, in der er seine Notizen vom vorangehenden Tag durchliest oder sich mit geschlossenen Augen erinnert, setzen sich die Schüler in Vierergruppen zusammen und erstellen gemeinsam eine Mind-Map zur Biographie Goethes und Schillers, die täglich weiter ergänzt wird. Anschließend stellen sich alle in einem Doppelkreis auf, jeweils zwei Schüler einander zugewandt und erzählen sich gegenseitig die vom Lehrer gestellten Aufgaben, zum Beispiel die Schilderung einer bestimmten Anekdote, einer bestimmten biographischen Situation oder auch nur einzelner Fakten. Jeweils ein Schüler ist dabei der Erzähler, sein Gegenüber ausschließlich Zuhörer. Jede Aufgabe wird zweimal gestellt, sodass jeder die Möglichkeit hat, einmal zu erzählen und einmal zuzuhören. Durch das Verschieben des Innenkreises gegenüber dem Außenkreis bekommen alle stets wechselnde Gesprächspartner, so dass Schüler mit ähn­-lichen und ganz unterschiedlichen Leistungsniveaus kurz hintereinander zusammenarbeiten.

Individualisieren: Im Anschluss an den Doppelkreis setzen sich die Schüler wieder in den Halbkreis vor die Tafel und einzelne sich meldende oder aufgerufene Schüler (jeder ist nach diesem Vorlauf Experte!) halten vor dem Auditorium kurze Vorträge zu den Aufgaben. Danach entwickelt sich dann das Unterrichtsgespräch mit vielen Beteiligten wie von selbst, in dem sowohl Schüler als auch der Lehrer ergänzen, nach­-fragen oder vertiefen. Erspürt der Lehrer, dass es Zeit ist, führt er den Unterrichtsstoff durch seinen Vortrag fort.

Üben: Ab der dritten Woche wird der Lehrervortrag kürzer und schließlich ganz eingestellt. Die Schüler teilen sich in Vierergruppen auf. Die Biographien der beiden Dichter (entweder in Form des angelegten Epochenheftes oder in ausgeteilter Kopie) sind jeweils unterteilt in zwei Hälften: früher und später Goethe, früher und später Schiller. In der Vierergruppe teilen die Schüler die vier Biographien so untereinander auf, dass die beiden »jungen« Dichter und die beiden »alten« Dichter sich gegenübersitzen. Zunächst liest jeder intensiv seine »eigene« Biographie durch und kann sich auch kurze Notizen dazu machen. Dann beginnt der erste »seinen« Biographieteil in Ich-Form zu erzählen. Das Gegenüber macht sich Notizen. Danach fährt der andere mit »seiner« Biographie fort. Nach Abschluss dieser ersten Sequenz wechseln alle ihre Identität und schlüpfen nun in die Rolle des Gegenübers. Durch weiteren Partner- und Rollentausch innerhalb der Vierergruppe erfahren sie nach und nach die vollständigen Biographien (für Schüler besonders amüsant, wenn sie ihren eigenen Tod schildern müssen).

Fähigkeiten erwerben: An zwei bis drei weiteren Tagen der dritten Woche widmen wir uns dem Praktischen: Gesucht werden vom Herzog Carl August ein Hoftheaterdirektor in Weimar und ein Professor für Geschichte in Jena. Goethe und Schiller bewerben sich für diese Stellen. Nachdem die Schüler die Grundzüge eines Bewerbungsschreibens erarbeitet haben, machen sich alle an ihr eigenes. Ziel ist es, den Herzog von persönlichen Kompetenzen und Qualitäten zu überzeugen, möglichst mit Verweis auf Berufserfahrungen und Referenzen. Natürlich muss solch eine Bewerbung auch formal stimmen (Anrede, Formulierung, Rechtschreibung, Schönschreibung). Deshalb wird zuerst ein Konzept geschrieben, Duden zum Nachschlagen liegen aus und im Anschluss müssen mindestens zwei Privatsekretäre (Mitschüler) gegenlesen und korrigieren.

Der Herzog (jeweils ein Partnerschüler) erhält das Bewerbungsschreiben, prüft es auf inhaltliche und formale Seriosität und entwirft ein Antwortschreiben. Wenn es gut geht, erhält der Bewerber eine Einladung zur persönlichen Vorstellung, im schlechtesten Fall muss er seine Bewerbung neu schreiben (zum Beispiel, wenn sie trotz Prüfung durch die Privatsekretäre unleserlich oder unvollständig war). Als Abschluss dieser Einheit gibt es Vorstellungsgespräche. Es empfiehlt sich, dies mit zwei begabten Schülern vorher im Kreis exemplarisch vorzuspielen und gemeinsam auszuwerten. Den Gesprächen sollten zwei neutrale Beobachter beiwohnen, die anschließend eine kurze mündliche und schriftliche Rückmeldung geben. Sammelt man all diese schriftlichen Dokumente, hat man schon das Rohmaterial für ein eventuell zu erstellendes Portfolio, zum Beispiel an Stelle eines klassischen Epochenheftes.

Neues schaffen: In der vierten Woche bekommen alle Balladengruppen drei Kreativaufgaben: 1. die Ballade mit verteilten Rollen einzustudieren und unter Beibehaltung des Originaltextes sprechend vorzutragen; 2. die Ballade zu vertonen und singend vorzutragen, wobei kleine Textänderungen (zum Beispiel Reime) erlaubt sind; 3. die Ballade in eine kleine Theaterszene zu verwandeln, wobei Text, Zeit und Ort der Handlung verändert werden dürfen. Die Gruppen arbeiten in dieser Woche die Ideen aus und erstellen für die zweite und dritte Aufgabe schriftliche Vorlagen.

Einige Wochen später führen die Gruppen ihre Balladen in verschiedenen Ecken des Schulhofes auf. Mitschüler, Kollegen und Eltern wandern von Gruppe zu Gruppe. Sie erleben, wie aus dem Erlkönig ein melancholischer Emo-Gitarrensong geworden ist, aus dem Zauberlehrling ein in Ringelreihen getanztes und gesungenes Medley aus bekannten deutschen Kinderliedern, eine etwas schrille TV-Kochsendung »The-Magic-Kitchen-Show« und aus Schillers »Handschuh« ein Rap über eine Jugendgang, deren Queen das Handy ihres jugendlichen Macho-Lovers von der Autobahn­brücke wirft, um ihn zur Mutprobe anzustacheln.

Literatur: Conrad van Houten: Erwachsenenbildung als Schicksalspraxis – Grundlagen für zeitgemäßes Lernen, Stuttgart 1999

Zum Autor: Martin Carle war langjähriger Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule in Schwäbisch Hall und arbeitet z. Zt. an der Rudolf-Steiner-Schule Berner Oberland/Schweiz