Nur wer sich bindet, kann sich trennen

Sabine Braun

»Sie sind Hebamme? Was für ein schöner Beruf … Immer auf der Sonnenseite des Lebens« – das höre ich als Hebamme immer wieder. Doch gibt es im Leben einen Bereich, wo Freude ohne Trauer, Leben ohne Tod zu Hause ist? Ist es nicht so, dass eine Dimension nur in der Polarität zur anderen ihre Kraft, ihr Potenzial entfalten kann? Bewegung zwischen Polaritäten ist Ausdruck von Leben und Gesundheit. Der Schmerz, den Mutter und Kind bei der Geburt durchleben, ist Ausdruck von Trennung, Verlust und Abschied, der natürlicherweise zum Gebären und Geborenwerden gehört. Den physischen Ausdruck seines geistig-seelischen Wesens (Mutterkuchen und Eihäute), seine vorgeburtlichen Hüllen, legt das Kind mit der Geburt ab, das bedeutet, ein Teil seiner Leiblichkeit stirbt. Die Geburt prägt wie in einem Urbild dem werdenden Menschen diesen Rhythmus des Lebens ein: Wehe und Pause, Tag und Nacht, Geborenwerden und Sterben. Diese Rhythmen gehören zu einem gesunden Leben.

Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre sind die Zeiten in unserem Leben, an die wir uns nicht erinnern können, die uns aber enorm in unserer Entwicklung prägen. Von uns Erwachsenen fordert diese Lebensphase achtsames Behüten, das sich von Vertrauen und Sicherheit nährt. Und genau hier befinden wir uns heute auf äußerst wackligem Boden.

Unser Vertrauen ist von Ängsten bedroht, brüchig geworden. Sicherheit setzt Kenntnis und Erfahrung voraus. Doch wir begegnen Gebären und Sterben in ihrer weisheitsvollen Kraft und Notwendigkeit im Alltag nicht mehr. Die Individualisierung unserer immer kleiner werdenden Familien, ihre Zerstreuung, die den Anforderungen des Lebens folgt, trennt die Generationen. Die Hospitalisierung der gefahrvollen, weil unbekannten, Lebensprozesse von Gebären und Sterben entfremdet uns immer mehr von uns selbst. Trotzdem sind sie Teil unseres »normalen« Lebens.

Menschen in dieses Leben und Menschen aus diesem Leben zu geleiten ist schon lange als professionelle Aufgabe an Spezialisten abgegeben worden. Schleichend geht damit in meinem Arbeitsfeld die Tatsache einher, die wir auch an der beständig steigenden Kaiserschnittrate ablesen können: Wir trauen uns und den kommenden Kindern Geburt nicht mehr zu. Schlimmer noch: Wir nehmen unseren Kindern die Geburt ab. Obwohl uns unsere Kinder, insbesondere in den ersten drei Lebensjahren beständig mit enormer Dringlichkeit signalisieren, dass wir ihnen nichts, gar nichts abnehmen sollen. Unsere Kinder scheuen kein Üben, Mühen oder Misslingen, gerade in dieser noch nicht vom Ich-Bewusstsein ergriffenen Lebenszeit, weil sie ein tiefes Empfinden für die Sinnhaftigkeit und Richtigkeit eigenbestimmten Handelns und Erlebens haben.

»Bonding« (Bindung) und Beziehung sind heute die großen Schlagworte des Lebens mit Kindern. Nehmen wir diese Qualitäten als Grundlage jeglicher Beziehung ernst, gleich ob im Vorgeburtlichen, im Prozess von Geburt und Tod, im Irdischen oder Geistigen, eröffnet sich uns ein Weg aus der aktuellen Enge um Leben, Gebären und Sterben.

In Beziehung mit einem vertrauten oder sich mir anvertrauenden Menschen zu sein heißt: geistesgegenwärtig, präsent, da sein und gleichzeitig für Individualität Raum geben. Die Schwangerschaft zeigt dieses In-Beziehung-Sein unübersehbar auf leiblicher Ebene. Aber nur wenn Mutter und Kind seelisch-geistig ebenso in Beziehung stehen, schöpfen beide das maximale Potenzial an Entwicklung aus ihrer Verbindung.

Abgekoppelt von der individuellen Beziehung verweigert sich das Leben unserem »Wissen von richtig und falsch«. Nehmen wir nur die pränatale Diagnostik, die uns immer wieder vor die Alternative Abtreibung oder Fetozid versus Leben oder Sterben mit Krankheit oder Behinderung stellt: Wir sind sofort diskussionsbereit, stehen für unsere Position, urteilen oder verurteilen nicht selten großzügig. Dies so lange wir nicht persönlich – konkret in Beziehung stehend – damit konfrontiert werden. Doch wie unsicher wird der Boden, wenn sich ein junges Paar in den ersten Wochen »guter Hoffnung« plötzlich »entscheiden« soll. Wie unsicher werden auch die Profis, wenn die werdende Familie jetzt Beziehung und damit unumstößlich Verantwortung einfordert.

Wir können als Profis Wissen und Erfahrung einbringen, aber nie wissen, was individuell richtig ist. Nur in der Beziehung aller Beteiligten findet sich die jeweils richtige Antwort auf eine individuelle Lebensfrage. Eingebunden in eine Beziehungsentscheidung finden die medizinischen und technischen Entwicklungen unseres heutigen Lebens ihren jeweils rechten Platz. Möglichkeit entsteht anstelle von Machbarkeit. So »gesichert« dürfen wir uns Geburt und Tod in ihrer eigensinnigen Weisheit und Unabänderlichkeit anvertrauen und in Beziehung stehend aneinander wachsen.

Link: www.hebamme-braun.de