Die Sinne als Forschungsfeld

Wolfgang-M. Auer

Vor etwa 25 Jahren lief eine Nachricht um die Welt, die viele erschreckte. In einem Vorort von Los Angeles war ein Mädchen mit seiner Mutter aufgetaucht: Genie war etwa 12 Jahre alt und bis dahin in einer kleinen, dämmrigen Kammer groß geworden. Sie konnte kaum gehen, war nur 128 Zentimeter groß, wog 28 Kilogramm und konnte nur drei bis vier Meter weit sehen. Sie konnte keine feste Nahrung kauen und schlucken und war unfähig, zu sprechen oder Sprache zu verstehen. Genie war seit frühester Kindheit von ihrem Vater in einem kleinen, kahlen Raum gehalten worden. Nachts im Käfig, tagsüber in Gurten gefangen. In diesem Raum gab es nichts zum Spielen. Nur der Vater kam, um Genie mit Brei zu füttern und zu säubern. Niemand durfte mit ihr sprechen, auch der Vater sprach mit ihr nicht. Er knurrte und kläffte nur. Und gab sie einmal einen Laut von sich, schlug er sie. Die Mutter war blind und selbst Gefangene ihres psychotischen Mannes. Erst als Genie 12 oder 13 Jahre alt war, schaffte es die Mutter, mit ihr zu fliehen. Genie wurde nach ihrem Auftauchen medizinisch und psychologisch betreut und erhielt über mehrere Jahre einen intensiven Förderunterricht. Dennoch kam sie sprachlich nie über das Niveau eines anderthalbjährigen Kindes hinaus. Sie konnte einige undeutliche Lautgebilde hervorbringen und sinngemäß einsetzen. Mehr nicht. Und auch in der Entwicklung ihrer Intelligenz und ihrer Persönlichkeit blieb sie auf dieser Stufe stehen.

Genie war in keiner Weise körperlich behindert. Sie hatte alle Voraussetzungen für eine normale kindliche Entwicklung. Ihr Gehirn war in Ordnung. Sie besaß alle Sinne, und sie waren auch alle intakt. Das einzige, was ihr fehlte, waren Wahrnehmungen für diese Sinne. Und das bedeutet: ihre Sinne konnten nicht oder nur in geringem Maße ausgebildet werden. Denn unsere Sinne entwickeln sich, indem wir mit ihnen wahrnehmen, und zwar in dem Umfang, wie sie durch die Wahrnehmungen gefordert werden. Da Genie in ihrem Gefängnis nichts sah, was weiter entfernt war als drei bis vier Meter, konnte sie auch nur so weit scharf sehen.

Auch ihr Gehör blieb unterentwickelt, da ihm nur wenig differenzierte Klänge geboten wurden. Ähnlich bei den übrigen Sinnen. Aber nicht nur das: Viel einschneidender war, dass ihr einziges Vorbild, der Vater, mit ihr nicht sprach. Was zur Folge hatte, dass sie keine Sprache entwickeln konnte. Als sie dann Sprachunterricht erhielt, war die sensible Phase für Sprache, und das heißt für Sprachfähigkeit überhaupt, längst verstrichen. Denn mit dem Erlernen der ersten Sprache entwickeln wir zugleich auch Sprachfähigkeit, so dass wir nicht nur die Muttersprache, sondern in der Folge weitere Sprachen erlernen können.

All das war bei Genie nicht geschehen. So blieb auch die Entwicklung von Intelligenz und Denken auf der Strecke. Denn wer keine Sprache hat, der kann auch sein Denken, seine Intelligenz und seine Persönlichkeit nicht entwickeln. Genie fehlten die entscheidenden Wahrnehmungen für eine menschliche Entwicklung.

Hören lernen

Der Säugling erwacht, spürt ein wenig Hunger und meldet sich. Dann hört er ganz bestimmte Geräusche und Klänge, bis die Mutter im Blickfeld erscheint, ihn aus dem Bettchen nimmt und stillt. Später legt sie ihn wieder hin, deckt ihn zu, bleibt noch einen Moment stehen und spricht mit ihm. Dann geht sie, und er hört wieder ganz bestimmte Klänge und Geräusche. Und diese wiederholen sich jedes Mal. So lernt er, wie es klingt, wenn die Mutter kommt oder geht, und fühlt sich sicher. Später, wenn das Kind krabbeln und erst recht wenn es laufen kann, spielt es mit den Dingen seiner Umgebung, füllt sie in einen Topf, kippt sie wieder aus, schlägt mit einem Stock an den Topf, dann mit einem Löffel. Und jedes Mal hört es einen anderen, ganz bestimmten Klang oder, wenn es Papier zerknüllt und zerreißt, ein ganz spezifisches Geräusch. Es lernt dabei, wie die Dinge und wie das Material klingen und verbindet sich durch das Hören mit der Welt. Hat es viele solche Erfahrungen, entwickelt es an ihnen ein differenziertes Gehör, mit dem es später die vielen klanglichen Nuancen der Sprache, selbst so ähnlich klingende Sprachlaute wie in den Worten Nagel und Nadel, mühelos unterscheiden kann.

Die Grundausstattung unseres Gehörsinns erwerben wir in den ersten Jahren, indem wir Erfahrungen mit den Klängen und Geräuschen der stofflichen Welt machen.

Sprechen lernen und Gesprochenes deuten

Das Kind könnte jede Sprache der Welt erlernen. Es nimmt die Laute und Klänge der in seiner Umgebung gesprochenen Sprache wahr, taucht in sie ein und spezialisiert sich schließlich auf sie. Die Gefühle, die mit den Sprachklängen und mit der Sprachmelodie ausgedrückt werden, versteht das Kind von Anfang an. So kann schon ein Säugling wahrnehmen, ob der Gefühlsausdruck einer sprachlichen Äußerung zum Gefühlsausdruck der Mimik passt. Das bedeutet, der Sprachsinn oder Gestaltsinn, mit dem wir die Lautgestalt der Sprache und die Sprachmelodie sowie die damit ausgedrückten Gefühle wahrnehmen, steht dem Kind von Geburt an zur Verfügung. Er entwickelt sich, wenn die Lautsprache mit all ihren klanglichen und melodischen Differenzierungen in seiner Umgebung erklingt. Und sehr bald ist das Kind auch in der Lage, sein eigenes Unwohlsein, seinen Ärger oder seine Freude selber klanglich mitzuteilen.

Bedeutungen wahrnehmen und bilden

Der Gedankensinn oder Bedeutungssinn, mit dem wir die begriffliche, gedankliche Bedeutung der Worte und Sätze wahrnehmen, erwacht etwas später. Das können wir an folgender Situation deutlich erleben. Der zehn Monate alte Mattis erobert alles im Krabbeln und will auch die Wendeltreppe hinauf. Um das zu verhindern, ruft die Mutter ihm zu: Nein, nicht die Treppe rauf! Sie tut das, um ihn nicht zu erschrecken, in freundlichem Ton. Und wie reagiert er? Er krabbelt weiter, und zwar ganz einfach deshalb, weil er an der Melodie des Ausrufes Zustimmung wahrgenommen hat. In diesem Alter versteht er nur die Melodie der Sprache. Würde die Mutter das Verbot mit einem hm-hm in abfallender Melodie äußern, würde er unten bleiben. Denn jetzt versteht er das Nein, weil die Melodie das Missfallen ausdrückt. Einige Monate später ist es dann so weit, dass auch die begriffliche, gedankliche Aussage mit dem Gedankensinn wahrgenommen wird. Und kaum kann das Kind sie wahrnehmen, benutzt es auch schon selbst die ersten Begriffe, um sich verständlich zu machen, und sagt dua, wenn es etwas trinken möchte, mama, wenn es Trost braucht. Und dann lernt es Wort für Wort, ohne dass jemand ein Wort erklärt, einfach weil es die Bedeutung durch seinen gebildeten Gedankensinn wahrnimmt. Schließlich kann es, indem es zwei oder drei Worte zusammenbringt, komplexe Aussagen machen.

Am Ende des dritten Lebensjahres beherrscht es bereits die Grammatik, weil es mit seinem Gedankensinn die Logik der Grammatik an der gesprochenen Sprache wahrgenommen und durch eigene Anwendung ausprobiert hat. Und sobald dieser Prozess zu Beginn des dritten Jahres einsetzt, entfaltet sich die Intelligenz des Kindes, entwickelt sich sein Denken. Nimmt das Kind keine Sprache wahr und deswegen auch keine Gedanken, die andere Menschen äußern, so können sich Intelligenz und Denken bei ihm auch nicht entwickeln. Mehr noch: Das Kind kann dann auch seine Persönlichkeit nicht entwickeln, denn dazu bedarf es einer Wahrnehmung der Persönlichkeit anderer Menschen.

Ausbildung des Ichsinns

Wir haben für diese Wahrnehmung einen eigenen Sinn, den Ichsinn oder Stilsinn. Der kann die Persönlichkeit aber nur wahrnehmen, wenn diese sich durch Sprache in umfassendem Sinn äußert. Persönlichkeit erfahren wir an der Art und Weise, wie ein Mensch spricht, wie er seine Gefühle zeigt, seine Gedanken äußert, wie er sich gibt und auf sein Gegenüber eingeht. Der Ichsinn, der dies wahrnimmt, steht von Anfang an zur Verfügung, wenn auch mit einfachen Funktionen. So erkennt der Säugling nach der Geburt die Stimme seiner Mutter wieder und bald auch die Stimme anderer wichtiger Personen. Für die weitere Ausbildung dieses Sinnesbereichs bedarf es täglicher Persönlichkeitswahrnehmungen am lebenden Vorbild, später ergänzt durch Märchen, Legenden und Biographien. Die Entwicklung des Ichsinns ist noch wenig untersucht. Man kann aber bestimmte Schritte beobachten: wie das Kind mit drei bis fünf Jahren den Erwachsenen komplexer wahrnimmt und mit sieben bis neun Jahren zu einer Wesenseinschätzung seines Gegenübers in der Lage ist.

Nun taucht natürlich der Einwand auf: Gehörlose Kinder können doch auch Intelligenz und Persönlichkeit ent- wickeln! Ja, das können sie, weil sie mit den Augen »hören« und mit den Händen »sprechen«, das heißt, weil sie eine sichtbare Sprache entwickeln. Diese können sie aber nur dann entwickeln, wenn Menschen ihrer Umgebung jene sichtbare Sprache verwenden. Die Gebärdensprache der Gehörlosen ist eine solche sichtbare Sprache. Sie kann die gesprochene Sprache ersetzen, ist ihr gleichwertig und besitzt alles, was zu einer Sprache gehört: emotionaler Ausdruck, Grammatik, Syntax. Sie ist Muttersprache für die, die mit ihr aufwachsen, und wird dann im Gehirn an der Stelle verarbeitet, wo sonst die gesprochene Sprache verarbeitet wird. Im umfassenderen Sinn gehört Vieles, was wir ständig benutzen, um uns sichtbar auszudrücken, zur Sprache. Für den Bereich des Sprachsinns sind das Mimik, Gebärden und jede Art von Gestaltung (Komposition, Design, Architektur). Für den Gedankensinn sind es Gesten wie das Zeigen. Es sind Zeichen, Symbole, Bilder, Pantomime, praktische Tätigkeiten, Gegenstände und ihre Kombination. Für den Ichsinn sind es neben dem Gesicht die Bewegungen, an denen wir den anderen erkennen, und die Bewegungsspuren (Handschrift, Malstil, Kompositionsstil). Nicht nur für gehörlose Menschen ist es gut, dass wir die sichtbare Sprache besitzen und wahrnehmen können. Auch hörende Kinder profitieren davon.

Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen kann nämlich geholfen werden, wenn die Erwachsenen mit der gesprochenen Sprache zugleich Gebärden und andere Elemente sichtbarer Sprache verwenden, das heißt, wenn Kinder die Möglichkeit haben, Sprachsinn und Gedankensinn nicht nur im Bereich des Hörens, sondern auch auf dem Feld des Sehens oder des Tastens zu entwickeln.

So machen wir ständig beim Tasten sprachliche und gedankliche Wahrnehmungen, weil unser Sprach- und unser Gedankensinn auch über den Tastsinn funktionieren. Und so nehmen wir nicht nur an jeder plastischen Gestaltung, sondern auch an der Art der Berührung durch einen Menschen oder der Art der Vibration die Gefühle wahr, die andere durch ihre Gestaltung, durch die Berührung oder durch eine Bewegung ausdrücken. Diese Wahrnehmungen benutzt auch der Ichsinn, um über den Kanal des Tastens etwas von der anderen Persönlichkeit zu erfahren.

Was der Gedankensinn im Feld des Tastens wahrnimmt, ist uns eigentlich geläufig, nur meist nicht bewusst. Wenn wir einen Gegenstand in der Hand erkennen, ohne ihn zu sehen, dann deshalb, weil unser Gedankensinn die Funktion des Gegenstands, das heißt, den in ihm steckenden Gedanken über den Tastsinn wahrnimmt. Wenn wir Kindern häufig diese Wahrnehmung ermöglichen, indem wir sie immer wieder mit Gegenständen und Werkzeugen umgehen lassen, dann hilft ihnen das nicht nur beim Entwickeln einer praktischen Intelligenz, sondern auch bei der Entwicklung der gesprochenen und der sichtbaren Sprache.

Hören – Sehen – Tasten

Sprachsinn, Gedankensinn und Ichsinn, in der anthroposophischen Literatur üblicherweise »obere Sinne« genannt, kommen in drei großen Sinnesbereichen vor, nämlich im Hören, im Sehen und im Tasten. Sie können nur tätig werden, wenn sie einen dieser »Basissinne« als Medium benutzen. Sie bilden mit ihren Basissinnen einen großen Sinneskomplex, der für unser Leben und für unsere Entwicklung von Ausschlag gebender Bedeutung ist. Über diesen Sinneskomplex findet jede menschliche Kommunikation statt, auch die der Erziehung. Und alles, was zu Kultur, Bildung, Kunst, Literatur und Wissenschaft führt, bedarf dieser Sinne. Man kann diese Sinne daher kommunikative Sinne, man könnte sie auch Kultursinne nennen.

Dass wir so über diese Sinne sprechen können, verdanken wir Rudolf Steiner, der mit seinem Entwurf eines umfassenden Sinneskonzepts bis heute einmalig dasteht. Aber sein Sinneskonzept ist von der allgemeinen Wissenschaft nicht angenommen, teilweise sogar belächelt worden. Das mag zwei Gründe haben. Erstens: Wenn es um die Sinne geht, stehen immer noch die Organe und die physiologischen Prozesse im Mittelpunkt. Die Sinne sind aber gar nicht alle an ein bestimmtes, alleiniges Organ gebunden. Geht man also von den Organen aus, so schließt man bestimmte Sinne von vornherein aus. Zweitens: Die Sekundärliteratur über Steiners Sinneskonzept ist, mit wenigen Ausnahmen, ausgesprochen unwissenschaftlich, sodass man sich über die mangelnde Akzeptanz nicht zu wundern braucht. Häufig wird einfach nur nacherzählt, was man bei Steiner lesen kann, ohne es einer weiteren Prüfung zu unterziehen.

Nun ist es aber dringend nötig, dass sich eine Sinnesforschung entwickelt, in der Steiners Ansatz Aufnahme finden kann. Denn kein anderer Ansatz wird der großen Bedeutung der Sinne für die Pädagogik der frühen Kindheit gerecht. Die frühe Kindheit ist ja in den letzten 25 Jahren ganz neu in den Blick der pädagogischen Forschung genommen worden. Eigene Lehrstühle und Institute wurden dafür gegründet. Und mit der Spielforschung und der Bindungsforschung sind wichtige Forschungsbereiche entstanden, deren Ergebnisse inzwischen Einfluss genommen haben auf die pädagogische Praxis. Im selben Sinn muss sich eine Sinnesforschung entwickeln, die besonders die Bedeutung der Sinne in der frühen und mittleren Kindheit in den Blick nimmt. Dabei kann das Steinersche Sinneskonzept einen wichtigen Beitrag leisten. Das wird allerdings nur dann möglich sein, wenn Forscher, die von diesem Konzept ausgehen, in einen offenen Dialog mit der allgemeinen Wissenschaft treten und bereit sind, sich der Überprüfung durch diese Wissenschaft zu stellen.

Zum Autor: Dr. phil. Wolfgang-M. Auer, Jahrgang 1943, Pädagoge, Kunstwissenschaftler, Sinnesforscher. 30 Jahre Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum in allen Altersstufen, federführend bei der Entwicklung des sogenannten Bochumer Modells, seit 1982 auch Dozent in der Aus- und Fortbildung von Waldorflehrern und Waldorferzieherinnen, seit 2003 Leitung des Waldorfkindergartenseminars Dortmund. Heute als Dozent an verschiedenen Orten im In- und Ausland tätig.

Veröffentlichungen zum Thema: Sinnes-Welten. Die Sinne entwickeln, Wahrnehmung schulen, mit Freude lernen, München 2006; Praxisbuch Sinne wecken. Spiele und Gestaltungsmöglichkeiten für Kindergarten und Vorschule, Schaffhausen 2008.

Weiterführende Literatur: Lise Eliot, Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren, Berlin 2001 / Alexander Mescerjakov, Helen Keller war nicht allein, Berlin 2001 / Martin Grunwald/Lothar Beyer (Hrsg.), Der bewegte Sinn, Basel 2001.