Fachhochschulreife und Berufspraxis

Roland Fey

Die genannte Prüfungsordnung setzt einen lange gehegten Wunsch der Waldorfschulen nach einem Verfahren um, das den Inhalten ihres Unterrichts entgegenkommt. Neben den kognitiven Fächern (schriftlich: Deutsch, Englisch, Mathematik; mündlich: Biologie ) nimmt der sogenannte berufsbezogene Teil einen breiten Raum ein. Unter Anerkennung des gesamten künstlerischen und praktischen Unterrichtes der Oberstufe können die Schüler den Abschluss innerhalb eines Jahres erlangen. Im Anschluss an die Schulzeit sammeln sie Berufserfahrung durch eine neunmonatige betriebliche Tätigkeit oder durch eine Berufsausbildung und können sich anschließend an einer (Fach-) Hochschule einschreiben. Das Angebot der Fachhochschulreife wird von den Schülern und Schülerinnen wohlwollend als weiterführender Abschluss oder als ernstzunehmende Alternative zum Abitur wahrgenommen. Es ist immer wieder zu sehen, wie sich die Fächer gegenseitig befruchten und die gestalterisch-praktische Arbeit den Schülern Kraft für das abstraktere Lernen im kognitiven Bereich gibt.

Die Waldorfschulen bieten im Abschlussjahr (12. oder 13. Schuljahr) für den berufsbezogenen, praktischen Teil Prüfungen aus folgenden Bereichen an: Metall, Holz, Keramik, Druck/Papier, Textil, Gestaltung, hauswirtschaftlich-pflegerischer Bereich. Das zu erreichende Niveau (auch in der Fachtheorie) soll dem Niveau eines zweiten Lehrjahres eines vergleichbaren Ausbildungsberufes entsprechen.

Viele Schulen wählen den Bereich Gestaltung für den praktischen Teil, da er im Vergleich zu mehr handwerklich ausgerichteten Gebieten breitgefächerte Möglichkeiten der individuellen künstlerischen Entwicklung bietet, die an die bisherigen künstlerischen Erfahrungen der Schulzeit anknüpfen. Im Bereich der Gestaltung können die unterschiedlichsten Materialien wie Holz, Ton, Gips, Stein oder Gold/Silber unter künstlerischen Aspekten bearbeitet werden. Der individuellen künstlerischen Entwurfsarbeit kommt eine ebenso große Bedeutung zu.

Die Kunst schafft den Zeitgenossen

An der Freien Waldorfschule Karlsruhe bieten wir den Schülern der 13. Klasse Gestaltung in Holz (Holzbildhauerei) und in Silber (Silber- und Goldschmiedearbeiten) an. Geeigneten Schülern mit einem guten Realschulabschluss schaffen wir dadurch die Möglichkeit, anschließend eine Hochschul­zugangsberechtigung zu erwerben. Gleichzeitig erhalten wir das volle Entwicklungspotenzial einer 12. Klasse, ohne zu frühe Entscheidungen ausgerechnet von den Schülern zu verlangen, die diese Reifezeit noch benötigen. Durch die Fachhochschulreife in der 13. Klasse lässt sich vielfältig an den künstlerischen Fächerkanon der 12. Klasse anknüpfen und nochmals Raum und Zeit schaffen für die weitergehende Reifung und Entwicklung der Individualität.

In den Kunst-Epochen der Oberstufe lernen die Schüler theoretisch und praktisch gestalterische Gesetzmäßigkeiten kennen und setzen sich mit den Phänomenen der Kunst bis zur Gegenwart auseinander. Sie üben dadurch, einen eigenen Standpunkt als Zeitgenossen zu entwickeln. Auf dem Höhepunkt ihres eigenen Schaffens setzen sie sich mit dem vollplastisch gestalteten Portrait auseinander. In der Physiognomie spricht sich die Individualität eines Menschen aus. Wenn die Schüler das menschliche Antlitz nachschaffen, lernen sie die Individualität, die sich in der Gestaltung darlebt, erkennen und ergreifen. Indem sie der gestaltenden Individualität nachspüren, unterstützen sie die individuelle Entwicklung ihrer eigenen Urteilskraft.

Auch im Steinhauen wird das individuelle Urteilen geübt. Die Seelentätigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens müssen harmonisch zusammenwirken. Willentlich muss ich eines der härteren Materialien gestalterisch ergreifen, indem ich mit dem Spitzmeißel punktuell Material abtrage. Empfindend begleiten muss ich den Entstehungsprozess von verlebendigten Flächen und kompositorisch wirkungsvoll eingebundenen Kanten. Um die sich immer mehr verdichtende und in Erscheinung tretende (abstrakte) Form zu erkennen und die Gestaltung bewusst zu lenken, muss ich mit stetiger Wachsamkeit und gedankenklarer Aufmerksamkeit mein Tun begleiten.

Willentlich tätig sein – empfindend wahrnehmen – klare Ziele setzen: das sind Schlüsselqualifikationen, die in anderen Lebensbereichen, insbesondere in sozialen Prozessen als Fähigkeiten benötigt werden.

Keine Angst vor Projekten

Die Schüler sind jetzt imstande, selbstständig individuelle Gestaltungsaufgaben zu entwickeln, zu ergreifen und in einer angemessenen Technik und Qualität zu lösen. In der Vorbereitungszeit zur Fachhochschulreife geht es viel um die Selbstständigkeit. Wir geben weit gefasste thematische Anregungen, in deren Rahmen die Schüler ihre Aufgaben selbst wählen dürfen. An unserer Schule werden die Schüler sechs Stunden pro Woche im gewählten künstlerischen Fach unterrichtet, weitere selbstständige Werkstattarbeit ist darüber hinaus notwendig. Im Rahmen der Fachkunde schreiben die Schüler auch eine Hausarbeit über ein künstlerisches Thema oder einen Künstler. Sie müssen lernen, ihre Zeit einzuteilen und Aufgaben selbstständig zu planen und zu ergreifen. Der Lehrer wird zunehmend zum Berater und Begleiter. In Gestaltungsfragen, ob im Design bei den Silberarbeiten oder im freien künstlerischen Ausdruck in der Holzbildhauerei, können die Schüler eine individuelle, der Aufgabe gemäße Formensprache entwickeln, erproben und durch die gereifte Urteilsfähigkeit und unter Beratung des Lehrers eigenverantwortlich korrigieren.

Die Kombination aus kognitivem Lernen, künstlerischer Tätigkeit und freier Zeiteinteilung lässt im 13. Schuljahr Qualitäten reifen, die viele ehemalige Schüler erst im Lauf ihres weiteren Lebens erkennen und schätzen lernen. So schilderte ein ehemaliger Fachhochschul-Absolvent zu Beginn seiner Berufskarriere: »Wenn ich ein Projekt übertragen bekomme, weiß ich am Anfang eigentlich noch gar nichts! Im Studium habe ich gelernt, wo und wie ich mir das dafür notwendige Fachwissen aneigne. In der Fachhochschulreife an der Waldorfschule habe ich jedoch gelernt, wie Prozesse zu führen sind, und habe das Vertrauen und die Erfahrung, dass ich es schaffen werde, ohne bereits zu Beginn das Ziel fertig vor Augen zu haben.«

Zum Autor: Roland Fey ist Kunst- und Werklehrer an der Freien Waldorfschule Karlsruhe.