Phantasie und Technologie

Martin Spura

In 3-D-Filmen wie »Avatar« können wir besonders gut sehen, wie uns die phantastischen Welten nicht nur in bewegten Bildern vorgespiegelt werden, sondern eine gerade­zu plastische Ausgestaltung erfahren. Die Effektspiele der Technik projizieren eine sich direkt vor uns aufbauende Scheinwelt in den Raum. Wir werden förmlich dazu aufgefordert, in einen virtuellen Kosmos hineinzuschlüpfen, der mitunter starke körperliche Reize auf uns ausübt und Veränderungen bis tief in unser Gemütsleben hinein bewirkt. Mit dieser gewaltigen Vereinnahmung kommen wir bereits durch jedes Computerspiel und jeden Film in Berührung. Durch den 3D-Effekt wird lediglich eine weitere Tiefen­dimension der technischen Einflussnahme erschlossen.

Dabei fragt sich, inwiefern eine derart technisch erzeugte Phantasiewelt noch die schöpferischen Kräfte im Menschen fördert. Regt die Technik unsere geistig-imaginativen Fähigkeiten an, ganz gleich, wie herrisch sie auf das unterhaltende Spektakel abzielt? Offenbart allein die Sichtbarkeit und Wirksamkeit der technischen Abenteuerwelten, welche Tiefenwirkungen sie bei uns hinterlassen? Was geschieht, wenn Phantasiewelten an das Technologische gekoppelt werden? Geraten wir dadurch nicht in einen unbewussten, nur schwer zu überbrückenden Zwiespalt?

Goethe nennt in Maximen und Reflexionen das unmittelbare Verbinden-Wollen von Phantasie und Technik einen »Fehler der Dilettanten«. Er bezieht dies auf das künstlerische Gebiet, doch müssen wir heute den Blick erweitern und uns fragen, was sich durch das spektakuläre Sichtbarmachen des Phantastischen mittels eines technologischen Geräts in uns ereignet. Die Phantasie ergänzt die Realität durch eine verborgen zu ihr gehörende Tiefenebene, während der Phantastik nichts an diesem Zusammenklang liegt.

Phantasie erweitert …

Die Brüder Grimm schreiben im Vorwort zu ihrer Märchensammlung, dass »vor allem die ungetrübte Phantasie« die Märchen vor dem Vergessen bewahrt habe. Die Märchen sind der Stoff der Phantasie, in dem sie zugleich ihren Niederschlag und ihre Anregung erfährt. Doch bedarf es auch der Kraft der Phantasie in uns, um nicht zu vergessen, woher das Phantastische ursprünglich kommt. Insofern ist die Phantasie eine grundlegende Erinnerungskraft, die uns im traumhaft Wahrgenommenen an etwas gemahnt, das uns als Menschen in unserem Wesen etwas angeht.

In diesem Wachrufen und Ins-Licht-Stellen einer stets vom Vergessen bedrohten Welt, zeigt sich das Wesentliche der Phantasie. Sie denkt sich (ihrer ursprünglichen Bedeutung gemäß) nicht wahllos etwas aus, sie bildet sich keinen Trug ein, sie erliegt nicht einem bloßen Schein, sondern sie zeigt uns das stets im Hintergrund Sich-Entziehende. Sie führt ins Offene und lässt uns wahrnehmen, was uns durch allzu viel Intellektualität und Realitätssinn verloren ging. Durch die Phantasie tritt etwas in Erscheinung, was ohne sie verborgen und unerkannt bliebe. Der vom großen Geschichtenschreiber Michael Ende hoch geschätzte jüdische Mystiker Friedrich Weinreb sagt, dass wir durch die Phantasie mit der anderen Seite – dem Ewigen – verbunden sind. Der Mensch stellt durch die Phantasie eine Verbindung zu einer geistigen Wirklichkeit her, die neben der materiellen Realität auch zu seiner Wohnstätte gehört. Der Mensch ist ein Bewohner dieser zwei Welten und die Phantasie baut die Brücke hinüber in das verborgene geistige Reich. Sie ist, wie der Philosoph Martin Heidegger treffend betont, im griechischen Sinne der Wortherkunft, »wirklich und einfach das Sich-Zeigende in seinem Sich-Zeigen.«

Die Phantasie zeigt uns allerdings nicht die bloße Außenseite der Dinge, sondern das gewöhnlich Nicht-Beachtete an ihnen. Sie zeigt uns beispielsweise den Mond nicht in seiner bloß mit den äußeren Sinnen wahrnehmbaren Form, sondern sie zeigt den Mond in seinem Mond-Sein, in all dem, was zum Mondhaften gehört, und er in seinem Wesen trägt. Die Phantasie zeigt uns das sehnsuchtsvoll Träumerische des Mondes, seine schwankenden Launen und Emotionen, seine mythisch-weiblichen Kräfte und ebenso seine zauberhafte Leuchtkraft inmitten tiefster Seelennacht. Ebenso zeigt die Phantasie uns etwa im Bild des Drachens, im Bild der Hexe oder des Alten Weisen nicht etwas rein äußerlich Wahrnehmbares, sondern archetypische Seelenbilder, die uns im Innersten anrühren und dort als Wirklichkeiten zu uns sprechen. Analog dazu verhält es sich in der Kunst. Ein Künstler phantasiert frei und so wird ein echtes Kunstwerk nicht den äußeren Mond realitätsgetreu abbilden, sondern es wird zeigen und ästhetisch hervorkehren, was den Mond in seinem Sein ausmacht. Das Kunstwerk zeigt den Mond unmittelbar in seinem Sich-Zeigen, es offenbart das an seinem Wesen Wahrzunehmende. Ebenso ist es mit der Phantasie: sie ist das künstlerische Element unserer Vorstellung.

Platon schreibt im Theaitetos: »Erscheinung also (griech.: phantasia) und Wahrnehmung (griech.: aisthesis) ist dasselbe« – oder anders ausgedrückt: Phantasie und Ästhetik ist dasselbe. Die Ästhetik des Künstlerischen dient also nicht einer oberflächlich ansprechenden Schönheit, sondern die Ästhetik will das aus der anderen Welt Erscheinende wahrnehmen und zur Gestaltung bringen. Nur das Phantastische ist das Schöne. Dem Nur-Realen fehlt die Schönheit.

… Technik begrenzt

Kann nun mit Hilfe der Technik das Phantastische sichtbar gemacht werden, dann tritt die Phantasie zwar in Erscheinung, aber häufig in allzu grober Weise. Wir nehmen an ihr dann meist nicht mehr die Seelenbilder wahr, nicht mehr das Schöne und Wesenhafte, die feinen Nuancen, sondern oft nur noch das veräußerte Bild. Die Technik bedroht die Ästhetik und vernichtet sie, wenn das Technische nur des Effektes wegen eingesetzt wird. Nur wenn die Technik als dienendes, fein dosiertes Hilfsmittel eingesetzt wird, kann sie Phantasie und Ästhetik bewahren und ihnen einen Ort der Entfaltung einräumen.

Ein Kind, dem wir ein Märchen vorlesen, kommt durch die Phantasie – die Raum lässt für eigene Schaffensprozesse – in Kontakt mit dem Seelisch-Geistigen; es nimmt eine jenseitige Sphäre innerlich empfindend und vorstellend wahr. Sieht das Kind hingegen das Märchen lediglich als Film, bei dem der technische Effekt im Vordergrund steht, dann besteht die Gefahr, dass die Phantasie durch die Bild- und Effektgewalt übermächtig wird, wodurch keine zarte Seelensaite mehr erklingen kann.

Die Gefahr des Technologischen besteht folglich darin, dass das allzu gewaltig Phantastische die zarte Phantasie in uns erschlägt. Es tritt dann nichts außer der äußeren Hülle in Erscheinung. Das Sich-Zeigende bleibt geist- und seelenlos, wodurch es sich nicht eigentlich zu erkennen gibt. Die Mithilfe der Phantasie beim Erkenntnisakt bleibt dann aus. Die Erkenntnis bleibt ohne lebensvolle Phantasie ein bloß technischer Gedanke, ohne Herz und ohne Wärme. Die Phantasie wird trocken, sie erstarrt und die anregende Bewegung kommt ihr nurmehr von den einnehmenden technisch erzeugten Bildern und Reizen. Dadurch wird die ureigene Imaginationskraft in all ihrer vielgestaltigen Schöpferkraft an den Rand gedrängt und ersetzt durch die Gier nach einem unentwegten Input von außen.

Kein Wunder also, wenn immer mehr Kinder (und auch Erwachsene) unter ADHS leiden, einer Eindrucks­allergie, die vor allem durch die von außen kommende Ersatzphantasie genährt wird. Da fehlt die Konzentration auf das eigene Innenleben, das nicht mehr in sich selbst fest verankert ist. Wie ein Ping-Pong Ball, der nervös angestachelt dem technischen Animationsvorbild folgt, wird unser Innerstes hin und her geschleudert, immer suchend nach einem Impuls, der uns ständig weiter treibt zu neuen Reizen, zu neuen Eindrücken.

Versuchungen der Phantasie – Gefahren der Technik

Freilich ist nicht nur die Technik gefahrvoll, auch die Phantasie ist ein zweischneidiges Schwert. Wer kennt es nicht, dass die Phantasie mit einem durchgeht und wir in Träumen versunken einer einnehmenden Vorstellung nachhängen, die uns weit von der Realität entfernt? Im Extremfall können wir so dem Leben entfremdet und für die alltäglichen Aufgaben untauglich werden.

Die Phantasie zeigt uns dann nichts, sondern sie bannt und lähmt uns, sie zieht uns in einen Sog hinab, wie es ja auch die Gefahr ist von Bastian aus der Unendlichen Geschichte. Es droht ihm das Ungemach, das Land Phantasien nicht mehr verlassen zu können. Auch die Phantasie kann in ein Übermaß führen, das uns fesselt und unfrei macht. Sie ist keineswegs etwas ausnahmslos Gutes, ebenso, wie das Technische nicht etwas eindeutig Schlechtes ist. Wir müssen feinsinnig und wertfrei differenzieren, wollen wir der zwei mächtigen Kräfte Herr werden. Tatsache ist allerdings, dass die Technisierung der Welt heute ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht hat. Dabei funktioniert die Welt nicht wie eine rational erklärbare Maschine, sondern lebt ursprünglich aus dem Mysterium des Irrationalen. Doch wie nur können wir der Irrationalität einen ihr gebührenden Platz gewähren, wenn die bestimmende Wissenschaft für alles einen Beweis fordert? Zwar bekennen Pädagogen und Therapeuten, wie wichtig das freie Spiel der Phantasie für die Entwicklung des Kindes ist, doch nur selten wird dies auch wirklich beherzigt. Der Lernerfolg verkommt dadurch schnell zum Leistungszwang und zum blinden Perfektionismus. Der Mensch soll möglichst glatt und fehlerfrei funktionieren, wie ein Apparat. Für Abweichungen jenseits der Norm bleibt kaum mehr Platz. Es bleibt kein Raum zum Wachstum, zur freien Entfaltung nach der eigenen, individuellen Schicksalszeit.

Sobald die technischen Fortschrittsmaßstäbe eins zu eins auf die Erziehung übertragen werden, wird die Bildung dem Diktat des Technischen unterworfen und der Raum für die Phantasie in der allergröbsten Weise beschnitten. Einen Raum für die Phantasie zu haben bedeutet ja nicht nur à la Harry Potter eine Fabelwelt voll Zauberer imaginieren zu können, sondern Phantasieren bedeutet, auch Raum zu haben, um ohne technischen Leistungs- und Fortschrittsanspruch frei lernen und spielen zu dürfen, nicht nur mit Bauklötzen und Computern, sondern auch mit Gedanken, mit Ideen, mit Träumen, mit Kunst, mit Musik, mit Theater, mit Wissenschaft und schließlich auch mit den Mitmenschen.

Würden wir der Phantasie diese bunte Spielwiese einräumen, dann würden wir der drohenden Weltfremdheit etwas entgegensetzen. Hätte Michael Endes Bastian mehr Raum zum spielerischen Ausdruck der Phantasie gefunden, dann hätte er sich nicht beinahe in der Unendlichen Geschichte verloren. Phantasien wurde ihm ja nur deshalb zu einem ihn verschlingenden Sog, weil die Realität ihm den Daseins­raum beschnitt und er so einen Ersatzraum suchte, für den ihm im äußeren Leben kein Platz geschenkt wurde.

Ein freies Leben jenseits der Normierung ist nur möglich, wenn die Phantasie erblüht und die Technik ihr dient. Fühlen wir uns daher daran erinnert, dass das frische Lebenswasser uns nicht durch die abgesteckten Bahnen des Technischen zufließt, sondern in uns selbst entspringt. Nur dürfen wir es nicht versäumen, die Schätze des phantastischen Quells auch im äußeren Leben fest zu verankern.

Gelingt uns dies, dann können wir den sehnsuchtsvollen Ruf nach dem Ewigen in Balance bringen mit den Anfor­derungen der anbrandenden Realität.

Um diesen Berg abzuarbeiten, kann Technik hilfreich sein, nur sollte sie uns nicht zum Götzen werden, dem wir dienen. Das in unserem Seelenleben Erstarrte und Ausgetrocknete wird niemals von den Maschinen belebt und erweicht werden können, sondern einzig durch die schöpferischen Kräfte in uns Heilung erfahren.

Zum Autor: Martin Spura ist Kulturphilosoph und lebt als freier Schriftsteller in Ulm. Von ihm erschien das Buch »Das verweigerte Opfer des Prometheus«. | www.martinspura.de