Geschlechtsrollenbilder heute. Kinder zwischen Orientierung und Konfusion

Mathias Wais

Eine klassische Aussage zur Geschlechtsrollenentwicklung besagt, dass das Kind vom gleichgeschlechtlichen Elternteil den Inhalt seiner Geschlechtsrolle übernimmt, deren Wertschätzung und Bedeutung aber vom gegengeschlechtlichen Elternteil. Die Geschlechtsrolle hätte demnach mindestens zwei Dimensionen. Die folgenden Beispiele aus der Erziehungsberatungsarbeit können vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung betrachtet werden.

Weitpinkelwettbewerb

Eine kleine Episode aus einer Vorstadtsiedlung. Vier Nachbarsjungen haben sich eines Nachmittags am Waldrand zu einem Weitpinkel-Wettbewerb zusammengefunden. Es zeigt sich, dass Sascha am weitesten kann, weit abgeschlagen sind Alex und Joscha, Drago ist das Schlusslicht. Nun wird das Ergebnis ausführlich und fachmännisch analysiert. Es stellt sich heraus, dass Drago es nicht mehr ausgehalten und sich zehn Minuten vor dem angesetzten Wettbewerb Erleichterung verschafft hatte. Damit ist seine Niederlage entschärft und Drago kann sein Gesicht wahren. Keiner lacht ihn aus. Man hat Verständnis für so etwas. Was nun Saschas Sieg betrifft, so ist man sich einig, dass er auf einem ballistischen Vorteil beruht: Sascha kann nämlich ohne umzukippen den Oberkörper besonders weit nach hinten abbiegen. Damit setzt er natürlich schon mit einem günstigeren Winkel an. Und Joscha gebührt Solidarität. Der hatte vor drei Wochen eine Phimoseoperation und die Jungs vermuten, dass man ihm dabei irgendwie die Harnröhre verbogen hat. … »Was soll’s«, sagt Sascha, »eigentlich sind wir doch alle gleich gut« und teilt damit seinen Sieg mit den anderen Jungs. Zufrieden und im Gefühl schöner Verbundenheit beginnen alle Vier, sich warm zu trippeln – ein Fußballmatch steht bevor … Da kommt wie ein Gewitter aus heiterem Himmel Alex’ Mutter auf die Wiese gestürmt. »Ich habe Euch genau beobachtet«, ruft sie schon von weitem. »Die Schweinereien hören auf! Wenn jetzt ein Spaziergänger vorbeigekommen wäre? Oder gar ein kleines Mädchen?« Die Jungs erschrecken. »Ihr seid wohl auch solche Kerle, die meinen, an jedes Gebüsch pinkeln zu dürfen.« Sie ist eindeutig erst am Anfang ihrer Erregung. Die vier Knaben blicken betreten zu Boden. »Aber das wird ein Nachspiel haben. Ich spreche mit euren Müttern darüber.«

Was haben diese vier Jungs nun erstens über den Inhalt ihrer Geschlechtsrolle erfahren und zweitens was über deren Wertschätzung?

Vater Caroline?

Ein anderes Beispiel: Zwei Frauen, beide Mitte Dreißig, leben seit vielen Jahren in lesbischer Beziehung zusammen, fühlen sich eng verbunden und leben ihre Partnerschaft mindestens so verbindlich und verantwortungsvoll, wie man das von heterosexuellen Partnern erwartet. Beide haben schon länger den Wunsch nach einem Kind. Die eine der beiden Partnerinnen lässt sich künstlich befruchten. Schwangerschaft und Geburt verlaufen komplikationslos und bald ist ihr Zusammenleben um eine kleine Tochter bereichert. Eines Tages, das Mädchen ist jetzt etwa fünf Jahre alt, wird es von einem Spielkameraden ihrer Gruppe gefragt, wer eigentlich ihr Vater sei. Das Mädchen stutzt – diese Frage war ihr noch nie gekommen. Nach kurzer Überlegung antwortet sie ebenso bestimmt wie selbstbewusst: »Caroline.«

Eine auf den ersten Blick befremdlich erscheinende Antwort. Das Mädchen mit seinen fünf Jahren fand es offenbar nicht irritierend, dass da keine männliche Bezugsperson im Haushalt lebte, vielmehr musste sie lediglich kurz überlegen, welcher der beiden Frauen sie eine väterliche Funktion zuschreiben sollte. Irritiert waren die beiden Partnerinnen, als sie davon hörten –, weil gerade Caroline diejenige war, die die biologische Mutterrolle übernommen hatte. Sie hatte das Kind ausgetragen und lange gestillt. Im Gegensatz zu ihrer Tochter gerieten die beiden nun in eine nachhaltige Verunsicherung über ihre Geschlechtsrolle.

Wieder kann man sich fragen: Was lernt ein Mädchen, das so aufwächst, über den Inhalt seiner Geschlechtsrolle einerseits und was über deren Wert andererseits?

Ein drittes Beispiel: Eine Frau lebt nach der Trennung von ihrem Partner mit dem gemeinsamen Sohn zusammen. Der Vater verließ die Familie, als der Junge sechs Jahre alt war. Die Mutter verkündete dem Jungen dies unter Tränen mit den Worten: »Dein Vater will uns verlassen.«

Mit dieser Formulierung veranlagte sie einen Beziehungsmodus zwischen Mutter und Sohn, der über die Jahre immer problematischer wurde, bis dahin dass der Junge dann mit etwa zwölf Jahren durch sexualisiertes, mädchenfeindliches und obszönes Verhalten und Reden auffiel.

Denn was sagt die Mutter mit dieser Formulierung? Indem sie sagt, er will uns verlassen, treibt sie einen Keil zwischen Vater und Sohn. Dem Sohn soll suggeriert werden, dass sein Vater nicht nur die Mutter nicht mehr lieb hat, sondern auch ihn nicht. Tatsächlich hatte diese Mutter die Versuche des Vaters, sein Umgangsrecht wahrzunehmen, über Jahre torpediert, bis es zu einer Entfremdung zwischen Vater und Sohn kam.

Der später ständig wiederholte Satz: »Er hat uns verlassen« schuf eine ungute Nähe zwischen Mutter und Sohn, die bald ins Übergriffige ging. Ab dem Tag der Trennung bis in seine Pubertät hinein, sollte der Junge bei der Mutter im Bett schlafen. – Seinen Schreibtisch, wo er seine Schularbeiten machte, hatte er im gemeinsamen Schlafzimmer. Während er sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren versuchte, kleidete sie sich dort um und ging ihrer Körperpflege nach. Er bekam all ihre weiblichen Intimitäten mit. Und er sollte sie auch mitbekommen. Der Gipfel war erreicht, als sie ihn einmal aufforderte, sie einzucremen und sie dazu auch ihren BH auszog. Die nächste Zeit fiel der Junge in der Schule auf, weil er Schulkameraden erzählte, er habe seine »Mutter flachgelegt«, wie er sich ausdrückte. Erst dadurch kam die Sache an unsere Erziehungsberatungsstelle. Was hat dieser Junge über den Inhalt seiner Geschlechtsrolle gelernt und was über deren Wert?

Wenn Mütter für die Männlichkeit der Söhne zuständig sind

Kommen wir auf das erste Beispiel zurück. Da gibt es ein interessantes Detail: Die empörte Mutter, die die Jungs beim Wettpinkeln ertappt hatte, kündigt an, über die exhibitionistischen Neigungen der Jungs mit deren Müttern zu sprechen. Das wirft die Frage auf, wer sich in unserer Gesellschaft eigentlich zuständig fühlt für die Erziehung von Jungs. Es sind in erster Linie Frauen, Mütter. Mütter sagen manchmal, wenn sie ihren kleinen Sohn auf dem Arm haben: »Es liegt jetzt an mir, einen richtigen Mann aus ihm zu machen.« Ein wundervolles Ziel. Nur: Wie macht sie das als Frau?

Stellen wir uns einmal den umgekehrten Fall vor, ein Vater, die kleine Tochter auf dem Arm, würde ankündigen: »Es liegt jetzt an mir, eine richtige Frau aus ihr zu machen.« Wir würden das bedenklich finden und mindestens würden wir sagen: »Was weiß der denn vom Frausein?« Oder, wenn wir dramatischer gestimmt sind, haben wir gute Lust, gleich beim Jugendamt anzurufen.

Was ein Junge ist, ein »richtiger« Junge, wie er sich zu benehmen hat, auch was ihm steht – das fällt in unserer Gesellschaft in die Zuständigkeit der Frau und Mutter. Wir muten ihr zu oder sie mutet sich zu, Kraft ihrer Mutterschaft zu wissen, was den »richtigen« Mann oder Jungen ausmachen sollte. Knaben wachsen häufig mit der früh verinnerlichten Botschaft auf: »Was es mit dir als Junge auf sich hat, was für dich richtig ist, was man von dir erwarten kann, das weißt du selber nicht. Deine eigenen Vorstellungen darüber bedürfen ständig der Korrektur und Verfeinerung durch die Mutter.« Mütter erziehen ihre Jungs nach ihren Vorstellungen vom Mannsein. Und was ein »richtiger« Mann ist, ist eine Mischung aus Arnold Schwarzenegger und Heidi. Er soll also schon ein gut durchblutetes Mannsbild werden, kräftig, kernig, aber er soll auch einfühlsam, rücksichtsvoll und »anständig« sein. Gerade diesen »Anstand« dem Jungen beizubringen, ist für solche Mütter ebenso wichtig wie anstrengend. Denn die reine Männlichkeit ist ihnen etwas, das prinzipiell zivilisiert und in Schach gehalten werden muss. Ein Junge ist immer in Gefahr zu verrohen, sich zum Gewalttäter, Drogenhändler oder Sexualverbrecher zu entwickeln. Die Aufgabe der Mutter ist es, dies zu verhindern. So gerät ihr die Männlichkeit ihres Sohnes zum immerwährenden Gegenstand der Belehrung, der Eingrenzung, der Warnung, der moralischen Entrüstung und Korrektur.

Wieso muten wir Frauen diese Aufgabe zu? Wieso fühlen sich manche Frauen zu dieser Aufgabe berufen? Warum machen Väter das mit? Offenbar teilen viele Väter das Bild ihrer Ehefrauen und glauben an deren Dompteurslizenz. Sie zeigen damit vor allem, dass sie selbst kein Vertrauen zu ihrem Mannsein haben. Dadurch geben sie an ihre Söhne jene Botschaft weiter, die ein kleiner Scherz so zusammenfasst: Fritz brütet über seinen Biologie-Hausaufgaben. Er hat in der Schule nicht alles verstanden und fragt nun seinen Vater, der gerade hinter der Zeitung steckt: »Papa, wo haben wir das Testosteron her?« Darauf der Vater: »Frag Mutti, die kauft immer ein.«

Diese Generalzuständigkeit von Müttern für die Entwicklung von Männlichkeit bei ihren Söhnen ist auch insofern tragisch, als sie prinzipiell grenzüberschreitend ist. Die Zuständigkeit der Frau für das werdende Männliche ignoriert nämlich grundsätzliche Wesensunterschiede zwischen dem weiblichen und dem männlichen Erleben.

Neid und Angst gegenüber dem Lebendig-Weiblichen

Erstens können Männer nicht an sich selbst erleben, was es bedeutet, Leben empfangen, austragen und nähren zu können. Das führt zu einer existenziellen Unsicherheit dem Lebendigen im allgemeinen und dem Weiblichen gegenüber. Sexistische, frauenfeindliche Äußerungen und Handlungen haben, soweit ich das rekonstruieren kann, eben diesen Hintergrund.

Eine Mutter, die sich für die Entwicklung der Männlichkeit ihres Sohnes zuständig fühlt oder fühlen muss, drängt mit dieser elementaren Lebenstatsache dem Jungen eine Welt auf, die ihm elementar fremd ist und ihm unbewusst sogar Angst machen kann. Die meisten Jungs reagieren darauf mit einer Ablehnung alles dessen, was weiblich ist oder was sie dafür halten und ersehnen doch zugleich die Nähe eben dieser ihnen unverstehbaren Sphäre. Eine Steigerung erfährt diese Ambivalenz bei alleinerziehenden Müttern, wo die Weiblichkeit bewusst oder unbewusst in den Blickpunkt des Sohnes gezwungen wird. In der therapeutischen Arbeit mit Sexualstraftätern – Missbrauchern, Vergewaltigern, Exhibitionisten –, begegne ich immer wieder Männern, die in einer unguten, häufig latent inzestuös gestimmten Nähe zur Mutter aufgewachsen sind.

Nicht jeder Sohn einer alleinerziehenden Mutter wird zum Sexualverbrecher. Doch der Zusammenhang von Gewalt und Sexualität ist nicht auf schlechte, sondern auf fehlende männliche Vorbilder zurückzuführen. Und sei es dadurch, dass der Vater zwar anwesend ist, aber die Erziehung seiner Frau überlässt.

Ein Entwicklungsschritt mehr für Jungs

Der zweite Aspekt besteht in dem Sachverhalt, dass ein Junge, um seine Geschlechtsidentität zu finden, sich von seiner primären Bezugsperson, die eben zu allermeist die Mutter ist, lösen muss, das Mädchen aber nicht. Das Band zwischen dem zunächst geschlechtsneutral gedachten Kind und der Mutter ist bekanntlich ein existenziell anderes als das Band zwischen Vater und Kind. Das Kind hat eine tiefe, fast vegetative und zunächst natürlich unreflektierte Verbindung zur Mutter, während es die Beziehung zum Vater erst allmählich finden und aufbauen muss.

Für Jungs bedeutet dies, dass sie einen Entwicklungsschritt mehr machen müssen als Mädchen. Der Junge darf in dieser unreflektierten Beziehung zur Mutter nicht bleiben. Er darf sich nicht mit dem Weiblichen identifizieren, das Mädchen aber wohl. Jungs lernen nicht durch primäre Identifikation mit der Mutter, was ein Junge ist, sondern nur durch sekundäre, am Vater also.

Für den Jungen bedeutet dies, dass er darauf angewiesen ist, dass die Mutter diesen Entwicklungsschritt zulässt, und darauf, dass er männliche Bezugspersonen findet, die ihm Orientierung geben können.

Auch wenn die Mutter bereit ist, ihren Sohn für die Frage der Geschlechtsrollenfindung freizulassen, steht er vor dem Problem, die männliche Bezugsperson finden zu müssen. Und selbst wenn der getrennt lebende Vater von der Mutter vor dem Sohn nicht schlecht gemacht wird, kann man sich vorstellen, dass der Sohn Mühe hat, eine ihm Sicherheit gebende männliche Orientierung zu finden.

Viele Jungs haben Glück und finden zum Beispiel im Stiefvater das Entsprechende oder bei einem Verwandten. Viele aber, deren Vater getrennt lebt – entwickeln statt eines realistischen und handhabbaren Vater- oder Männerbildes einen Popanz. Sie idealisieren ihren abwesenden Vater und in der logischen Folge das Männliche – und spüren doch tief innen, wie hohl die Männlichkeitsmythen sind, zu denen sie da Zuflucht suchen.

Der Vater ist dann mindestens eine Art moderner Ritter, unabhängig, frei und nur auf sich selbst verlassend; er ist wenigstens im übertragenen Sinne hochpotent, er hat zum Beispiel eine Menge Geld, denn er kann sich ständig Freizeitparks, Zirkusbesuche und Sportveranstaltungen leisten; er hat Macht, denn durch seinen Weggang bestimmt er ja das Leben der Restfamilie. Auch hier wieder die Frage: Was lernt ein solcher Junge erstens über den Inhalt der männ­lichen Rolle und was lernt er zweitens über deren Bedeutung?

Männer müssen erziehen wollen

Das starke Geschlecht ist, besonders wenn man auf seine Entwicklung blickt, eindeutig das schwächere und gefährdetere. Da ist es wenig hilfreich, dass nicht nur die familiäre Pädagogik, sondern auch noch die öffentliche bis heute feminin ist. Das ist keine Anklage gegen Frauen in den entsprechenden Berufen, sondern eine Aufforderung an das männliche Geschlecht, sich nicht nur privat, sondern auch durch Berufswahl in die Erziehung und speziell die Erziehung von Jungs einzuschalten.

Es gibt keine explizite Geschlechtererziehung mehr. Das ist verständlich, denn wir haben die Einseitigkeiten früherer geschlechterspezifischer und geschlechtsgetrennter Erziehung erkannt und verstanden, dass sie – für Mädchen möglicher­weise noch mehr als für Jungs – Festlegungen und Einschränkungen auf rigide Geschlechtsrollenbilder mit sich brachte. Andererseits wäre, speziell für Jungs, eine partielle geschlechterspezifische Erziehung und übrigens auch Beschulung durchaus hilfreich.

Frauenfreie Räume würden helfen

Vielerorts gibt es seit einigen Jahren sogenannte »Jungenhäuser«. Das sind frauenfreie Räume, von Männern geführt, in denen nicht etwa dumpfe Männlichkeitsmythen zelebriert werden, sondern in denen darüber nachgedacht, daran geforscht und damit experimentiert wird, was es heißen könnte, ein Junge, ein Mann zu sein und was das bedeuten könnte. – Andere Kulturen und vor allem sogenannte primitive Gesellschaften haben solche jungenspezifischen gesellschaftlichen Räume und man darf annehmen, dass dies mit ein Grund ist, weshalb man dort weniger Probleme mit männlicher Gewalt und Grenzüberschreitung hat, als wir es haben. In meiner Erziehungsberatungspraxis mache ich allen soziologischen Überlegungen der Gender-Forschung zum Trotz die Erfahrung, dass es einen Kern der Geschlechtlichkeit gibt, der heute noch wichtiger ist als früher und der mehr Orientierung ermöglicht als noch so ausgefeilte Erziehungsmethoden. Ein kleiner Junge, der aus Neugier in den Umkleidekabinen des Freibades Mädchen beim Umziehen beobachtet hatte, wurde von seinem erbosten Vater hierzu zur Rede gestellt. Auf die Frage des Vaters »Was hast du dazu zu sagen?« antwortete er: »Das, was du sonst immer sagst, Papa: Hauptsache, wir sind gesund«.

Zum Autor: Mathias Wais studierte Psychologie, Judaistik und Tibetologie in München, Tübingen und Haifa. Arbeitsschwerpunkt Biographik, Biographie- und Erziehungsberatung. Er ist Mitarbeiter des Dortmunder Zentrums »Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene«.