Rudolf Steiner in einem Zug

Martin Malcherek

Erster Tag: Start mit Eurythmie-Flashmob 

Wir, die Zugreisenden, bis zu 180 Leute, werden am Hauptbahnhof Köln, auf den Stufen des Doms von dem (nach Veranstalterangaben) »weltweit ersten Eurythmie-Flashmob« begrüßt und verabschiedet. Der Zug rollt. In Mannheim warten – wie an zahlreichen anderen Bahnhöfen – Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer der Waldorfschule auf uns. Geburtstagslieder für Steiner, Mitsingen erlaubt. Im Inneren des Zuges entfaltet sich eine spezifische Art der Begegnung und Auseinandersetzung. Man trifft sich im Speisewagen und im Clubwagen »Rheingold«, der sich temporär in einen Seminarraum verwandelt: Auf der Fahrt steigen kleinere und größere Gruppen zu, einige auch optisch gut als Anthroposophen zu identifizieren. Im Clubwagen wird jetzt gesungen, später plastiziert. Tatsächlich hat sich ein buntes »who is who« der Anthro-Szene versammelt.

Während man sonst auf Tagungen eher fachorientiert arbeitet, kann hier ein Blick über die Grenzen der Disziplinen gewagt werden: Waldorf-Pädagogen, biologisch-dynamische Bauern, anthroposophisch orientierte Mediziner, Anthro-Banker, Nachlassverwalter und Goetheanummitarbeiter. Anthroposophen aus aller Herren Länder, sogar aus Indien ist man angereist. Und das Schöne ist: Während es sonst Teil des szenetypischen Selbstverständnisses ist, möglichst viele Termine gleichzeitig zu absolvieren, haben hier alle Zeit. Man trifft sich, lernt sich kennen, ordnet lange bekannten Namen endlich Gesichter zu: »Ach, Sie sind das? Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt ...« Der Zug wird zum Netzwerk. 

Zweiter Tag: Steiner, die Respektsperson 

Abfahrt um 4.55 Uhr. Heute werden drei Grenzen überschritten. Natürlich nur in politisch-geographischer Hinsicht. Das Bewusstsein wird im Steiner-Express selbst-verständlich permanent erweitert …

Nachdem wir Slowenien durchquert haben und in Kroatien eingereist sind, werden wir in Steiners Geburtsort Kraljevec empfangen: großer Bahnhof. Das ganze Städtchen scheint auf den Beinen. Kamerateams, Blitzlichtgewitter. Der ört­liche Fanfarenzug führt uns in geschlossener Formation zum Geburtshaus. Dort warten Punsch und Glühwein sowie eine riesige Geburtstagstorte auf uns. Es ist bitter kalt und ein eisiger Wind pfeift. Trotzdem hören die Zugreisenden überwiegend aufmerksam den zahlreichen Reden zu und nehmen – fast ein bisschen ungläubig – den offiziellen Charakter zur Kenntnis, der dem Ereignis hier gegeben wird. Von Steiner als großem Impulsator, bedeutendem Wissenschaftler und Philosophen ist hier die Rede.

Als der Tag nach dem Festvortrag von Michaela Glöckler und einer Eurythmieaufführung, nach zwanzig Stunden geballter Ladung Steiner bei einem letzten Drink in der Hotelbar ausklingt, kommt er uns irgendwie unwirklich vor. War er aber nicht. 

Dritter Tag: Gerne ein bisschen Chaos 

Unsere Abfahrt beginnt ziemlich routiniert. Jeder weiß, wohin seine Koffer gehören. Die Abläufe stimmen, der Zeitplan wird eingehalten. Das wäre nix für Steiner, der Routine für den Tod des Geistigen hielt. Hier muss was passieren: Heizungsausfall – der Speisewagen ist nicht zu benutzen. Oder doch? Man muss eben improvisieren. Und so sitzen die Reisenden mit Mütze, Schal und Handschuhen bei den Gerichten, die aus biologisch-dynamisch erzeugten Nahrungsmitteln von einem der Sponsoren des Zuges auf den Tisch gebracht werden.

Man sitzt in einem nach Steiners Anregungen gestalteten Zug, erfährt en passant geistige Anregungen aus seinem Werk und verspeist dabei nach anthroposophischen Gesichtspunkten erzeugte Mahlzeiten. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass das charmante Servicepersonal, das die Speisen serviert, durchweg auf Waldorfschulen ausgebildet wurde … Ist das schon ein Gesamtkunstwerk? Oder eine soziale Skulptur? Auf jeden Fall ein lebendiger Beweis für die Aktualität von Steiners Werk. 

Vierter Tag: Ver-rückte Perspektiven 

Ob Steiner damit gerechnet hätte, als er noch in Wien lebte? Dass sein Geburtstag einst in der kaiserlich-königlichen Hofburg gefeiert würde? Walter Kugler weist darauf hin, dass das Interesse an Steiner und die Fruchtbarkeit seines Werkes für andere Menschen, insbesondere Künstler, nicht unbedingt darin gesehen werden sollte, dass er massenkompatible, vom Mainstream anerkannte Gedanken geäußert hat, sondern dass seine Sichtweise gerade eine vom Mainstream im eigentlichen Wortsinn »ver-rückte«, nämlich aus der Achse, aus der Zentralperspektive, geratene ist. Kugler sieht darin auch einen Gesichtspunkt, der die aktuelle – auch in der Waldorfbewegung geführte – Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie berührt, denn, findet Kugler, »diese Diskussion wird manchmal mit zu wenig Humor geführt.« Mit mehr Humor und Lebensfreude wird diese Diskussion in den umliegenden Kaffeehäusern noch einmal aufgerollt … 

Letzter Tag: Abschied vom Gesamtkunstwerk 

»Heute geht es in einem Zug von Wien nach Köln«, kalauert ein Mitreisender, als wir die Ochsentour beginnen. Ab jetzt bedeutet jede Station, von einigen der Mitreisenden und damit von dem sozialen Gesamtkunstwerk Zug Abschied zu nehmen. Werden und Vergehen – auch das sind zentrale Motive im Denken Steiners. War der Zug nur die Selbstvergewisserung einer hermetischen Szene, die im Aussterben begriffen ist oder regt er Anthroposophen dazu an, sich selbst, die Anthroposophie (und damit Projekte wie die Waldorfschule) permanent neu zu erfinden? Vermutlich wäre die letztere Art, sich selbst ver-rückt machen zu lassen, ein willkommenes Geburtstagsgeschenk für den Jubilar …