»Habt ihr eure Lehrer lieb?« Rudolf Steiner als Pädagoge

Christof Wiechert

Alle Erziehung ist Selbsterziehung 

Dass Rudolf Steiner im umfassendsten Sinne des Wortes Lehrer war, kann man schon manchen Sätzen seines Buches »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« entnehmen.

Im Kapitel über die Bedingungen der Selbsterziehung heißt es, man müsse sich »als ein Glied« des ganzen Lebens fühlen. Man müsse sein Gefühlsleben so entwickeln, dass man sich nicht dem Leben gegenüberstellt, sondern mitten in es hinein. Wie diese Lebenshaltung entwickelt werden kann, zeigt Steiner an zwei Beispielen.

»Bin ich Erzieher und mein Zögling entspricht nicht dem, was ich wünsche, so soll ich mein Gefühl zunächst nicht gegen den Zögling richten, sondern gegen mich selbst. Ich soll mich so weit als eins mit meinem Zögling fühlen, dass ich mich frage: ›Ist das, was beim Zögling nicht genügt, nicht die Folge meiner eigenen Tat?‹ Statt mein Gefühl gegen ihn zu richten, werde ich dann vielmehr darüber nachdenken, wie ich mich verhalten soll, damit in der Zukunft der Zögling meinen Forderungen besser entsprechen könne. Aus solcher Gesinnung heraus ändert sich allmählich die ganze Denkungsart des Menschen. Das gilt für das Kleinste wie für das Größte. Ich sehe aus solcher Gesinnung heraus zum Beispiel einen Verbrecher anders als ohne dieselbe. Ich halte zurück mit meinem Urteile und sage mir: ›Ich bin nur ein Mensch wie dieser. Die Erziehung, die durch die Verhältnisse mir geworden ist, hat mich vielleicht allein vor seinem Schicksale bewahrt.‹ Ich komme dann wohl auch zu dem Gedanken, dass dieser Menschenbruder ein anderer geworden wäre, wenn die Lehrer, die ihre Mühe auf mich verwendet haben, sie hätten ihm angedeihen lassen. Ich werde bedenken, daß mir etwas zuteil geworden ist, was ihm entzogen war …« 

Arbeiterbildung in Berlin 

Steiner schrieb diese Sätze, kurz nachdem er seine Dozentenstelle an der von Walter Liebknecht gegründeten Arbeiter­bildungsschule in Berlin aufgegeben hatte. Er unter- ­richtete dort von 1899 bis 1904. Man hatte ihn schon viel früher aus dem Kollegium entfernen wollen, aber man wagte es nicht, weil er der beliebteste und ge­achtetste Lehrer war. Ein Augenzeuge berichtet: »Es war wohl um das Jahr 1904, als er sein Lehramt an der Arbeiterbildungsschule niederlegte. Die buchstabengläubigen Zionswächter hatten schon lange gegen den marxistisch nicht stubenreinen Lehrer gebohrt. Er war als Ketzer verdächtig, und nur die große Liebe, mit der die Schüler an ihm hingen, hatte die Gegner gehindert, loszuschlagen. Endlich aber war es doch soweit. Sie schickten den kleinen Max Grunewald, einen sattelfesten Marxisten, vor. Man setzte einen Abend fest, an dem die beiden Gegner sich messen sollten. Es wurde eine Geisterschlacht von gewaltigem Ausmaß. Steiner war in ganz großer Form. Er sprach mit dramatischer Steigerung, er rückte seinem Gegner mit einem unheimlichen Wissensschatz auf den Leib, er sprach mit Leidenschaft und Feuer und zwang selbst die Feinde in seinen Bann. Der kleine verkrachte Mediziner Grunewald kam gar nicht erst auf die Beine. Er war durchaus nicht dumm und sonst gefürchtet wegen seines Witzes und seiner Schlagfertigkeit. Aber er hatte schon bei der ersten Runde hoffnungslos verloren. Steiner ging, aber er ging als Sieger, umjubelt von seinen getreuen Schülern.«

Zu dieser Zeit unterrichtete Steiner an einer privaten Mädchenschule in Berlin. Eine seiner Schülerinnen wurde viele Jahre später auf Steiner aufmerksam und erkannte in ihm ihren Lehrer aus der Berliner Zeit. Sie besaß als »Backfisch« ein ausgesprochen sanguinisches Naturell und musste sich von den anderen Lehrern viele Ermahnungen gefallen lassen. »Nur Dr. Steiner tat immer, als ob er gar nichts merkte«, schrieb sie im Rückblick, »und sprach ruhig weiter, bis sie wieder Interesse zeigte. Während sie von den Inhalten der Stunden nichts mehr erinnert, hat sich ihr diese Seelenhaltung tief ins Gedächtnis eingeprägt.« 

Hauslehrer bei Familie Specht 

Vor dieser Zeit unterrichtete Steiner von 1884 bis 1890 bei der jüdischen Familie Specht in Wien als Hauslehrer. Er hatte die vier Söhne von Pauline und Ladislaus zu erziehen. Als er diese Aufgabe annahm, war er gerade 23 Jahre alt. Als er nach sechs Jahren um ein Zeugnis bat, schrieb Ladislaus Specht als letzten Satz: »Es ist nach Obigem selbstredend, dass Herr Steiner nur auf seinen eigenen Wunsch mein Haus verließ, begleitet von dankbarer Anerkennung meiner ganzen Familie.«

Der zweitälteste der vier Söhne, Otto, galt wegen seines Wasserkopfes als nicht bildungsfähig. Als Steiner seine Ar­beit begann, war Otto elf Jahre alt, hatte gerade die Aufnahme­prüfung für die erste Volksschulklasse nicht bestanden und seitdem nichts gelernt, da er nicht zur Schule ging. Nach zwei Jahren hatte Steiner den Jungen soweit, dass er ins Gymnasium konnte und bemerkte, »der Kopf wurde immer kleiner«.

Dieses Beispiel verwendet Steiner öfter, um das Prinzip der Ökonomie des Unterrichts zu erläutern. Der Junge war Anfangs so schwach, dass er nur fünfzehn Minuten Unterricht am Tag ertrug. Steiner brauchte volle drei Stunden, um den Stoff zu komprimieren. In dem Jungen muss durch diesen Unterricht ein gewaltiger Selbstheilungsprozess angeregt worden sein.

Auch wenn hier Vieles geheimnisvoll bleibt, kann doch gesagt werden: Die heilende Wirkung der Pädagogik, die hier sichtbar wird, stellt so etwas wie das Urbild der Erziehungskunst dar, die bis heute von den Waldorfschulen angestrebt wird.

Der Unterricht, den Steiner in dieser Familie erteilte, hatte eine große Anziehungskraft. Cousinen, Neffen, Kinder von befreundeten Familien fanden sich ein. Nachdem Steiner Wien verlassen hatte, blieb er mit vielen Familienmitgliedern in brieflichem Kontakt. Und obwohl Pauline Specht fast jeden Brief mit einer Rüge über Steiners Schreibfaulheit beginnt, spürt man doch die Liebe, Anhänglichkeit, Hochachtung und Dankbarkeit, die sie für den ehemaligen Lehrer empfindet.

Dem Geheimnis der lange fortwirkenden Lehrerper­sönlichkeit begegnet man auch in manchen Biographien ehemaliger Waldorfschüler, den zahlreichen persönlichen Ratschlägen an Eltern für die Erziehung ihrer Kinder und den erstaunlich wirksamen Hilfen bei der Überwindung von Krankheiten. 

Ein Lehrer der Menschenliebe 

Wo erleben wir Steiner als Pädagogen bei der Begründung der Waldorfschule? Da gibt es viele kleine Szenen: Er konnte zum Beispiel nicht über den Schulhof gehen, ohne dass Kinderschwärme ihn umringten. Oder er litt darunter, wenn die Lehrer in den Konferenzen nur das Schwierige an ihren Schülern sahen. Und er freute sich aufrichtig, als ein Schüler eine Form gemalt hatte, die ihn derart inspirierte, dass er diesen Jungen in der Pause sehen wollte und ihm für die Form dankte, die er beim Goetheanum-Bau in Dornach zu verwenden gedachte.

Aber es gibt auch die großen Szenen, die Ansprachen an die Schüler und die Besuche in den Klassen.

Die Schule hat am 16. September 1919 ihren Unterricht aufgenommen, am 21. Dezember versammelt sich die Schulgemeinschaft – die Klassen 1–8, die Lehrer und Eltern – zur ersten Weihnachtsfeier der neuen Schule. Steiner hält eine Ansprache: 

»Meine lieben Kinder! Vor einigen Wochen, als wir zum ersten Mal alle in diese Schule gingen, da besuchte ich euch öfter. Dann kamen ein paar Wochen, da musste ich ziemlich weit weg von hier sein. Aber jedes Mal, wenn ich morgens aufgestanden war und zu meiner Arbeit ging, da musste ich denken: Was werden jetzt meine lieben Waldorfkinder und ihre lieben Lehrer machen? Und oft am Tage kam mir dieser Gedanke. Und jetzt zur lieben Weihnachtsfeierzeit, da durfte ich euch wiederum besuchen. Da kam ich in alle Klassen hinein, und viele von euch, meine lieben Kinder, fragte ich: Habt ihr eure lieben Lehrer auch lieb? (Ja! rufen die Kinder) Und seht ihr, so habt ihr mir herzlich geantwortet. Und da sagte ich euch: Das ist mir ein ganz besonders liebes Weihnachtsgeschenk!« 

Kurz vor dem Ende dieser Ansprache richtet er noch folgende Worte an die Schüler: »Kinder, wenn ihr hereintretet in diese Räume und eure Kameraden und Kameradinnen findet, dann denkt daran, dass ihr einander auch herzlich lieben sollt, jeder und jede den anderen. Liebe soll walten unter euch, dann werdet ihr unter der Sorgfalt eurer Lehrer gedeihen, und eure Eltern werden zu Hause ohne Sorge und auch mit Liebesgefühlen daran denken, wie ihr hier eure Zeit zubringt.«

Dieses Motiv, dass die Schulgemeinschaft durch die Liebe, die gegenseitige Wertschätzung aller entsteht, kommt in all seinen Ansprachen vor, zusammen mit der herzlichen Aufforderung, fleißig und aufmerksam zu sein, die oft in reizende Fabeln gekleidet ist. 

Pädagogik ist angewandte Phantasie 

Im Juni 1924 besuchte Steiner die erste Waldorfschule außerhalb Deutschlands in Den Haag. Er kam in die Klasse des Schulgründers Daniel van Bemmelen im Zeichen­unterricht, Schwarz-Weiß-Schraffur. Van Bemmelen ver­suchte, die Schüler einen von der Sonne schräg be­leuch- ­teten Baum zeichnen zu lassen. Da stellte sich Steiner vor die Schüler, nahm einen Putzlappen und den runden Tafelschwamm, hielt die beiden übereinander, trat ans Fenster, so dass Licht darauf fiel, und stellte voller Freude fest, jetzt habe man den Baum, den man zeichnen könne. Dem Lehrer wurde schlagartig bewusst, was angewandte Phantasie ist.

Eine weitere Episode: Rudolf Treichler gehörte zum Urkollegium der Stuttgarter Waldorfschule. Als Klassenlehrer und Fremdsprachen­lehrer war er eine der Stützen der Schule bis zu ihrer Schließung durch die Nazis. Zu ihm kam Steiner eines Tages in den Englisch-Unterricht, es  mag wohl in der sechsten oder siebten Klasse gewesen sein. Treichler schildert: »... ich hatte – wie später immer wieder – das Vaterunser auf Englisch durchgenommen und mit den Kindern zu lernen begonnen. Rudolf Steiner kam gerade herein, als wir die Schlussworte sprachen: ›For thine is the kingdom, the power and the glory – for ever and ever‹.

Als wir fertig waren, stand Rudolf Steiner auf, trat zur Tafel, nahm eine Kreide in die Hand und sagte zu den Kindern: ›Ihr habt jetzt die schönen Schlussworte des Vaterunsers auf Englisch gesprochen und wisst natürlich auch die deutschen Worte dazu. Nun, jedes Königreich hat einen gewissen Umfang, eine bestimmte Größe‹ – und dabei zeichnete er einen Kreis – ›... und die Kraft dieses Reiches, die sitzt wohl wo?‹ – ›... in der Mitte‹, antworteten die Schüler. ›Ja in der Mitte‹, sagte Steiner und setzte den Mittelpunkt in den Kreis – ›... und die Herrlichkeit, der Glanz, den dieses Reich ausstrahlt, der leuchtet weit hinaus!‹ Dabei zeichnete er etwas wie Glanz- und Lichtstrahlen darum herum. Und nun fuhr er fort. ›Wie sieht das nun aus das Ganze?‹ Nach kurzem Zögern kam von allen Seiten der Ruf: ›Wie die Sonne!‹ – ›Ja, das ist die Sonne‹, sagte sichtlich befriedigt Rudolf Steiner und ging hinaus.«

Eines kann durch die wenigen Beispiele deutlich werden: Wo auch immer Steiner als Pädagoge wirkte, manifestierte sich jene allumfassende Menschenliebe und pädagogische Phantasie, von der am Anfang die Rede war. Es gibt keine Erziehung, die diesen Namen verdient, ohne diese Menschenliebe. 

Zum Autor: Christof Wiechert war bis vor Kurzem Leiter der pädagogischen Sektion am Goetheanum. Zuletzt ist sein Buch Lust aufs Lehrersein im Verlag am Goetheanum erschienen. 

Literatur:

Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (GA 10).

Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, »Wissen ist Macht – Macht ist Wissen« (Nr. 111), Dornach 1993; Dass.: Rudolf Steiner als Hauslehrer und Erzieher (Nr. 112/113), Dornach 1994

Erika Beltle (Hrsg.): Erinnerungen an Rudolf Steiner, Stuttgart 2001

Rudolf Steiner in der Waldorfschule (GA 298), Dornach 1980

Frans Lutters: Daniel Johan van Bemmelen 1899-1982, Driebergen 2005