Rudolf Steiner war auch ein Künstler

Griet Hellinckx

»Er konnte doch gar nicht malen ... Die Sprache seiner Dramen ist schwülstig ... Er hat alles gemacht und nichts richtig ... Was hat Esoterik mit Kunst zu tun? ... War er nicht eigentlich ein Theoretiker und sein künstlerisches Werk nur Illustration?«, so könnten die möglichen Einwände lauten. Freilich, könnte man die Vielfalt seiner Themen und die Fülle seiner An­regungen ausklammern, fiele es sicher leichter, ihm als Künstler vorbehaltlos zu begegnen.

Nehmen wir an, es handele sich um einen seiner Zeitgenossen, um Kandinsky, Gropius oder Trakl. Selbstverständlich würden Mensch und Werk im Kontext der Zeit betrachtet. Es wäre normal, nach Einflüssen von vorherigen Strömungen oder Zeitgenossen Ausschau zu halten, und zu beschreiben, wo, wie und warum es zu Gegenpositionen kam. Man würde in den Blick nehmen, was der einmalige und einzigartige Beitrag dieses Künstlers zur Kultur- und Kunstgeschichte ist und versuchen darzustellen, wie er auf künftige Entwick­lungen vorgegriffen oder sie mit angestoßen hat.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde man als Künstler von der Kunstkritik nicht ernst genommen, wenn der eigene künstlerische Ausdruck sich nicht auf ein Medium oder eine Kunstkategorie beschränkte. Kandinsky wusste, als er anfing, Gedichte und Bühnenkompositionen zu schreiben, dass er sich womöglich dadurch als Maler diskreditierte. Aber sowohl ihm wie auch anderen schwebte ein ganzheitliches Leben vor. Die verschiedenen Künste, aber auch Kunst und Alltag sollten verbunden werden.

Im Bauhausmanifest von 1919 formulierte Gropius ein gewagtes Ziel: »Erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird – Architektur und Plastik und Malerei –, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.«

Nicht Gropius, sondern Steiner war derjenige, der Hunderte von Menschen zusammenbrachte zur Errichtung des ersten Goetheanums. Von diesem Doppelkuppelbau sagte er, dass er durch seine Form – nicht nur auf symbolische Weise – die Doppelnatur des Menschen als Wesen mit einem höheren und einem niederen Selbst ausdrücke. 

Das Geistige in der Kunst 

In der Kunstgeschichte wird immer wieder berichtet, wie der junge Kandinsky eines der sogenannten »Heuhaufenbilder« von Monet in einer Ausstellung in Moskau sah und den dargestellten Gegenstand zuerst nicht erkannte. Er glaubte, vor einem »wirklichen Bild« zu stehen, das nur durch die malerischen Mittel wirkte. Dies überzeugte ihn von der Macht der Farben. Im Winter 1908 hörte er in Berlin mehrere Vorträge Steiners über das geistige Wesen der Farben und fühlte sich von dessen Ausführungen zutiefst inspiriert. Wenige Jahre später veröffentlichte er eine Schrift mit dem Titel »Über das Geistige in der Kunst«. Obwohl es sich um keine einfache Lektüre handelt, waren innerhalb eines Jahres drei Auflagen vergriffen. Kurz danach malte er sein erstes abstraktes Bild und gilt seither den meisten Kunsthistorikern als der erste, der diesen Schritt tat.

Lothar Schreyer, Maler, Schriftsteller und Dramaturg am Bauhaus, berichtet, dass Kandinsky bei einem Besuch in seinem Atelier, angeregt durch die Betrachtung eines religiösen Kunstwerkes mit dem Titel »Totenhaus«, seiner russischen Seele freien Lauf ließ und ausrief: »Das ist mein Ziel: Licht vom Lichte, das fließende Licht der Gottheit, den heiligen Geist zu verkünden.« Und dann verbittert kommentierte, dass es leider nur der Kunsthändler sei, der seine Bilder bekomme.

Steiner nutzte auf seinen ausgedehnten Vortragsreisen oft die Gelegenheit, Kunstwerke im Original anzuschauen. Ihn faszinierte der Zusammenhang zwischen der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit und den Kunstwerken einzelner Epochen. Das geistige Ringen, die Fragen und Visionen, die die Künstler seiner Zeit beschäftigten, erlebte und bewegte er auf intensive Art und Weise. Schon früh stand er im Austausch mit Malern und Literaten. Seine Beschäftigung mit Fragen der Kunst und Ästhetik war lange Zeit vor allem in seinen Vorträgen und Aufsätzen sichtbar, im Lauf seines Lebens verlieh er aber zunehmend selbst einem schöpferischen Impuls Ausdruck. In der Steiner-Ausstellung in Wolfsburg lag eine Seite seiner Tagebücher aufgeschlagen. Unter der Überschrift »Anthroposophie und Kunst« war dort zu lesen: »In der Idee verschwindet die Welt. Es entsteht das Bedürfnis nach Kunst. Wenn der Mensch lebendig bleibt – wenn er das Totwerden der Idee im Gedanken nicht mitmacht.« 

Auf dem Weg zum Gesamtkunstwerk 

Steiners Schriften und Vorträge, der »Seelenkalender«, die »Wahrspruchworte« und die »Mysteriendramen« weisen auf seine Liebe zur Sprache hin. So manches erinnert an die Ausdrucksweise der expressionistischen Literaten, die oft übersteigert und symbolistisch überhöht mit den bürgerlichen Gepflogenheiten brechen wollten. Ihre Dramen waren von über­individuellen Typen, langen Monologen und lyrischen Bildern geprägt. Tanz, Pantomime, Kostüme und Beleuchtung ergänzten den sprachlichen Ausdruck. Vergleichsweise sparsame Angaben Steiners und seiner Frau führten zur Eurythmie als einer neuen Bewegungskunst. Steiner entwarf Plakate, Schmuck, Möbel und ganze Gebäude. Mit Edith Maryon arbeitete er an Sockeln, Architraven und Kapitellen sowie an einer riesigen Holzskulptur, dem sogenannten Menschheitsrepräsentanten.

In den zwei Monaten vor der Uraufführung seines ersten Dramas »Die Pforte der Einweihung« 1910 stand sein ganzes Tun im Zeichen der Kunst. Am Tag wurde geprobt, nachts schrieb er an den Texten. Es wurde gezimmert, geschreinert, gemalt und genäht. Überall gab er Anregungen und genaue Anweisungen für die Tätigkeiten in den verschiedenen Werkstätten und begleitete die Durchführung der Arbeit. Als im Jahr darauf das zweite Drama einstudiert wurde, griff er vermutlich zum ersten Mal im Leben – mit fünfzig Jahren – zu Farbe und Pinsel und malte das Bild »Lichtesweben«. Anlass war die Frage einer Schauspielerin nach dem Bild auf der Staffelei, das im Text beschrieben wurde. Wenige Jahre später folgten auf Anfrage Schulungsskizzen für Maler und Entwürfe für die Deckenmalerei im Goetheanum. Dies macht deutlich, dass sein Schaffen nicht in jahrelangem Üben wurzelte, sondern seinem eigenen Bewusstseinszustand und der entsprechenden Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit entsprang.

Steiners künstlerischer Gestaltungswille gipfelte im ersten Goetheanum, einem Festspielhaus, das in Übereinstimmung mit dem zuvor zitierten Bauhausgedanken eine Verbindung zwischen den verschiedenen Künsten schuf. Der Doppelkuppelbau aus Holz stellte die vielen Handwerker vor besondere Herausforderungen. Steiner entwarf farbige Glasfenster und Bilder für die Decke und schnitzte an Säulenkapitellen. Nachdem dieses Gebäude einer Brandstiftung zum Opfer gefallen war, entschied er sich für einen Neuanfang in Beton, einem zur damaligen Zeit wenig erforschten Material. Dieser Bau gilt in der Architekturgeschichte noch immer als eine Besonderheit. 

Wandtafelzeichnungen im Museum 

Wenn man sich die Vielzahl der Steinerschen Ansätze anschaut, wird deutlich, dass er im Bereich der Kunst – wie auch auf vielen anderen Gebieten – Neues gesät hat, aber weder die Zeit noch die Kraft noch die Intention hatte, all dies selbst zur Blüte zu bringen. Aber es war Ausdruck seines Wesens und vor allem seines Anliegens, seine vielen Gedanken und Anregungen nicht nur in Worten, sondern auch in anderen Kunstformen aufleuchten zu lassen. Am deutlichsten wird das bei seinen Zeichnungen, die er als Teil des Erkenntnisvorganges betrachtete. Wie er selbst berichtet, hatte er die Angewohnheit, alles, was sich ihm in Bezug auf die geistige Welt erschloss, sofort mit dem Stift in der Hand in seinen Tagebüchern festzuhalten, entweder in Worten oder in Zeichnungen.

Auch seine Vorträge begleiteten solche Skizzen. Seit dem ersten Weltkrieg wurden diese Wandtafelzeichnungen nicht weggewischt, sondern auf schwarzem Papier erhalten. Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts beschlossen die Archivare, diese Blätter abzulichten und als separate Edition zu veröffentlichen. Auf diesem Weg kamen sie in die Hände von begeisterten Künstlern, Galeristen und Kuratoren und werden seitdem weltweit in Galerien und Museen ausgestellt. Viele Menschen scheinen ein unmittelbares Erlebnis beim Betrachten dieser Skizzen zu haben. Darin kann man eine Bestätigung für Äußerungen Steiners finden, in denen er die Kunst der Zukunft beschrieben hat (1915, GA 275). Er ging davon aus, dass die Menschen – ähnlich wie er es für sich in Anspruch nahm – zunehmend in der Lage sein würden, eine Wahrnehmung von etwas zu haben, was hinter dem Ton, hinter der Farbe und hinter den Formen liegt. Im seither verstrichenen Jahrhundert entwickelte sich tatsächlich die Erfahrung, dass in jedem noch so banalen Alltagsgegenstand etwas Besonderes enthalten ist. Im Bewusstsein des Betrachters kann sich eine transzendente Schönheit oder Wahrheit offenbaren. 

Zur Autorin: Griet Hellinckx ist Dozentin am Institut für Waldorfpädagogik Witten-Annen. 

Literatur:

Rudolf Steiner: Wandtafelzeichnungen 1919–1924, Dornach 1989–2003. Katalog zur Ausstellung im Kunsthaus Zürich vom 21. Mai bis 1. August 1999

Ders.: Wege zu einem neuen Baustil, GA 286, Dornach 1982

Ders.: Kunst im Lichte der Mysterienweisheit, GA 275, Dornach 1990

Lothar Schreyer: Erinnerungen an Sturm und Bauhaus, München 1959