95 Thesen gegen die Digitalisierung

Johannes Roth

Leitende Aspekte sind dabei: die Gesundheit, die Bildung und Selbsterhaltung der menschlichen Persönlichkeit, die Sorge vor totalitären Übergriffen etc. – Der evangelische Theologe und Hochschullehrer Werner Thiede, manchem bekannt durch frühere Veröffentlichungen oder durch seine Auseinandersetzung mit der Anthroposophie und der Waldorfbewegung, hat es nun unternommen, Phänomene der Digitalisierung in einen biblischen Kontext zu bringen: Die kritiklose Selbsthingabe an die unbegrenzten Möglichkeiten der Technik als eine Signatur der Selbst-Überhöhung, eines wahnhaften Realitätsverlustes: Der Turmbau zu Babel (1 Mose 11,1-9), der Tanz um das goldene Kalb (2 Mose 32,1-4).

Schon auf den ersten Seiten zeigt sich, dass der Ernst, mit dem der Autor sein Anliegen verfolgt, in scharfem Kontrast zu seinem Unvermögen steht, klar, gediegen und mit Tiefe zu argumentieren, wie es dieser Gegenstand unbedingt fordert: Der Gliederung in fünf Haupt- und 28 Unterkapitel zum Trotz springt der Gedankengang wie eine Roulettekugel von einem Gefahrenargument zum nächsten: Datenschutz, Konzentrationsschwäche, Energieaufwand, Vereinzelung, Machtballung, Strahlungsschädigung – alles wird in einen Topf geworfen, durch häufige Wiederholungen landet der Leser ermüdet bei den immer gleichen Analyse-Bruchstücken. Symptomatisch dafür Thiedes exzessives Zitieren (785 Zitate auf 148 Seiten, kaum ein Absatz ist eigenständig formuliert) und seine Beliebigkeit hinsichtlich der Quellen: Von der ADAC-Motorwelt zur FAZ, von Wikipedia zur Bahn-Zeitschrift »Mobil«, von Fernsehsendungen zu Trivialromanen. Fast scheint es, als sei der Verfasser hierbei selber der Digitalisierung erlegen. Hinzu kommen stilistische Mängel, sehr bedauerlich ist das offenkundig schlampige Lektorat.

Thiede möchte sich als Unheilsprophet erkannt wissen, um sich dem weitgehend kritiklos hingenommenen Digitalisierungs-Mainstream entgegenzustellen, ehe es zu spät ist. Positiv fordert er eine Unterscheidung der Geister und Jesus Christus selbst als »Kraftquelle«. Wer möchte da widersprechen! Doch leider verbleibt dieser Appell im Allgemeinen: Es genügt nicht, die dem Menschlichen entgegengerichteten Mächte an den Phänomenen der Digitalisierung zu bezeichnen, sie müssen in ihrer Methodik und Wesenhaftigkeit erkannt werden. Ebenso – noch wichtiger – steht es an, Mittel und Wege zu beschreiben, um die oben genannte Kraftquelle erschließen zu können. Hierfür muss das menschliche Denken als Angelpunkt erkannt werden, und schon vor Jahren wurde die Beherrschung desselben als der ausschließliche Weg genannt, der Allmacht der Digitalisierung zu entgehen: Bezeichnenderweise taucht Frank Schirrmachers Standardwerk von 2009 »Payback: Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen« in Thiedes ellenlanger Literaturliste nicht auf!

So ist zu befürchten, dass sein braves und konturloses Menschenbild und sein hausbackenes Heilsverständnis – keine konkrete Perspektive wird aufgezeigt, nur gebetsmühlenartig von der Bewahrung der Schöpfung gesprochen – dem so wichtigen Anliegen des Autors letztlich im Wege stehen.

Werner Thiede: Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, geb., 238 S., EUR 19,95, oekom verlag, München 2015