Der Götter Flamme im Menschenherzen

Lorenzo Ravagli

Der schweizer Waldorflehrer und Autor Jakob Streit, dem wir viele schöne Kinderbücher verdanken, veröffentlichte zu Beginn der 1980er Jahre ein kleines Büchlein, das die hier in neuer Aufmachung versammelten Miniaturen aus dem Erinnerungshaus Anna Samwebers enthielt.

Samweber, 1884 in München geboren, arbeitete nach dem Besuch einer Klosterschule als Erzieherin in Paris, Nizza und Odessa. In der Hafenstadt am schwarzen Meer unterrichtete sie die Tochter eines Reeders, die später Trotzkis zweite Frau werden sollte. Hier begegnete sie kurz nach Ausbruch des I. Weltkriegs der Familie des Zaren und behielt eine Tochter in besonders lebhafter Erinnerung, der sie später – davon war sie jedenfalls fest überzeugt – unter dem Namen Anastasia wieder begegnete. Letztere behauptete, die einzige Überlebende der Exekution der Zarenfamilie in Jekaterinburg zu sein.

Kurz nach Ausbruch des I. Weltkriegs floh Samweber auf abenteuerlichen Wegen in ihre Heimatstadt und traf in der Station des Roten Kreuzes im Wiener Westbahnhof auf einen Arzt, der ihr die Weiterreise nach München ermöglichte. Nach dem Krieg sollte sie ihm in Dornach in Gestalt Eugen Koliskos wieder begegnen. In München lernte sie nach dem Besuch eines Vortrags zum Thema »die Erziehung des Kindes« Rudolf Steiner kennen und es dauerte nicht lange, bis sie mit verantwortungsvollen Aufgaben wie der Übertragung mancher seiner Vorträge aus dem Stenogramm in Klarschrift betraut wurde. 1916 wurde sie nach Berlin eingeladen, um den Haushalt des Ehepaars Steiner zu führen.

Als enge Vertraute erlebte sie manche Episoden im Leben des Geisteslehrers, die nur durch ihre Erzählungen bekannt sind und als mit dem zweiten Gesicht Begabte sah sie manche Dinge, die sie mit Schrecken erfüllten.

Die berühmte Aussage Rudolf Steiners nach dem Marsch auf die Feldherrenhalle: »Wenn diese Herren an die Macht kommen, kann mein Fuß deutschen Boden nicht mehr betreten«, hat sie ebenso der Nachwelt überliefert, wie jene andere Bemerkung, die Steiner in der Nähe der polnischen Gesandtschaft in Berlin fallen ließ, binnen kurzem werde an diesem Ort kein Stein mehr auf dem anderen stehen. Den Brand des ersten Goetheanum erlebte sie visionär voraus und die Ermordung Carl Ungers in Nürnberg. 1923 war sie Steiners Botin, die das Mantra, aus dem der Titel dieser Besprechung stammt, zu den Berliner Freuden brachte. Vom Urnenstreit zwischen Marie Steiner und Ita Wegman wusste sie aus zweiter Hand zu berichten und aus erster von der Ausweisung Wolfgang Wachsmuths aus der Schweiz aufgrund des Betreibens eines Finanzbeamten. Der Bruder Wachsmuths wurde von Steiner in den Gründungsvorstand der Anthroposophischen Gesellschaft berufen.

Ein bisschen Klatsch, ein bisschen Zen-Koan, ein bisschen Heiligenlegende – durch das kleine Büchlein erhält man Einblick in das anthroposophische Milieu und verbringt einen netten Abend mit unterhaltsamer, manchmal befremdlicher Lektüre. Anna Samweber, die vom Ehepaar Steiner liebevoll »Sam« gerufen wurde, starb 1969 in Ostberlin, Jakob Streit 2009 in Spiez.

Anna Samweber, Jakob Streit: Erinnerungen an Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers, Verlag am Goetheanum Dornach, 96 S. , kart. 12,– Euro

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