Ich-Suche oder »Blut-und-Boden-Ideologie«? – Zu einer Verzerrung des Gralsmotivs

Frank Steinwachs

Vollkommen richtig hat Christoph Lindenberg in seiner Rezension zu Trevor Ravenscrofts »Die Heilige Lanze« geschrieben, dass jede Aufmerksamkeit für dieses prekäre Buch zu viel wäre; da es aber genuin anthroposophische Inhalte sowie insbesondere Walter Johannes Stein thematisiere, sei eine Reaktion unausweichlich. Ähnlich erging es mir in der Auseinandersetzung mit dem Buch von Sandra Franz. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass eine Promotionsschrift im renommierten und verdienstvollen Wochenschauverlag vom Fachpublikum erst einmal nicht als abseitige Meinung aufgenommen, sondern als eine diskurs- und zitierfähige Publikation angesehen wird. Und das macht eine Reaktion umso notwendiger: eine Reaktion auf das methodisch problematische, inhaltlich manipulative und phasenweise auch groteske Kapitel »Die völkisch-okkultistischen Gruppen« mit dem Abschnitt »Die Anthroposophen«.

Ein kurzer Blick zurück: Die Vermaterialisierung der französischen Revolutionsprogrammatik Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu Liberalismus, Kollektivismus und Rassismus war eine verstörende Verdrehung hoher Ideale. Gleiches tat die zunehmende Vereinnahmung des Menschen im imperialistischen Zeitalter, das den Arbeiter als Treibstoff der industriellen Produktion sah, globale Prozesse als nationalen und wirtschaftlichen Machtzuwachs verstand und den Völkermord als probates Mittel der Außenpolitik praktizierte. In Europa führte diese Entwicklung zu einer geistigen Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung, bei den Eliten und Amts-Kirchen. Einzelne, die sich als geistiges Sprachrohr einer neuen Zeit verstanden, vertraten im Stile von Geheimbünden einen okkulten Rassismus, wie beispielsweise Guido von List. Andere beschworen ein rassisch-nationalistisches Christentum, wie der sogenannte Bayreuther Kreis um Richard Wagner, und über den völkischen Duktus hinaus schufen schräge Charismatiker wie Jörg Lanz von Liebenfels die kolossale Verkitschung einer vermeintlich geistigen Welt. Richard Ungewitter predigte eine alternative Lebens-, Ernährungs- und Körperkultur und arbeitete mit seinem später massiv kultivierten antisemitischen Germanenkult dem Nationalsozialismus ebenso zu wie August Kenzler mit seinem völkisch-nationalistischen und später in der Hitlerjungend aufgegangenen Bund Artam, dem auch der spätere Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß bis zu seinem Eintritt in die SS angehörte.

In dieser Zeit entstand neben anderem eine bemerkenswert materialistische Esoterik, verbrämt mit jeder Menge Nationalismus und Chauvinismus. Auch wenn der bedeutende Historiker und Erforscher der Okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Nicholas Goodrick-Clarke, konstatierte, dass solche Gruppen nicht den Nationalsozialismus hervorbrachten, betont er doch, dass sie ihn zumindest geistig vorbereiteten. Durch den Geist des Imperialismus wurde das noch gefördert. Die selbsternannten Erlöser beschworen ihre Germanen-, Arier-, Grals-, Templer- oder Sonstirgendetwas-Kulte im Kampf ums Überleben der vermeintlich arischen Rasse und sahen in den Stahlgewittern des Ersten Weltkrieges ihre Erfüllung.

In dieser geistig und emotional verwirrenden Stimmung kam 1894 ein Buch auf den Markt und brachte das Kernproblem auf den Punkt: Die Philosophie der Freiheit. Mit dieser Schrift eröffnete Rudolf Steiner vollkommen neue geistige Räume. Der Einzelne stand vor seiner sozialen wie auch seiner geistigen Welt in einer kompromisslosen Selbstverantwortung. Und in dieser radikalen Abkehr vom entindividualisierenden und mörderischen Geist des Imperialismus liegt das Revolutionäre der Anthroposophie – auch und gerade als Gralswissenschaft.

Zurück zu Sandra Franz. Eine ihrer Hauptthesen besagt, dass jede Art spirituellen Denkens oder die Integration spiritueller Themen eine Form von esoterischem Reduktionismus darstelle und damit ein fundamentales Glaubenssystem sei (S. 291 f.). Jedwede Spiritualität wird durch die Autorin als Macht- und Herrschaftsmittel angeprangert. Sie schießt sich in ihren Darstellungen beispielsweise auf einige Ausführungen Rudolf Steiners ein, die sich konkret auf das Blut beziehen, aber kaum nachvollziehbar und inhaltlich total falsch dargestellt sind. Es ist richtig, dass Rudolf Steiner das (ätherische) Blut mit dem Gralsgedanken verknüpft. Aber er sagt doch gerade, dass es seit der Kreuzigung Christi keine wirksamen biologischen Unterschiede der Menschen mehr gäbe und das Individuum seitdem frei von biologischen Determinanten sei. Biologistisches Denken kann aus anthroposophischer Sicht nicht mit dem Gralsthema im Zusammenhang stehen. Im Gegenteil: Das ätherische Blut wird von Rudolf Steiner als Träger der göttlichen und seit der Kreuzigung menschlichen Individualität verstanden. Die von Sandra Franz vor diesem Hintergrund offensichtlich nicht verstandene Formulierung Mysterien des Blutes (S. 294 f.) bezeichnet das Ausströmen und den in die menschliche Welt eindringenden göttlichen Geist im Sterbeprozess des Christus während der Kreuzigung. Sandra Franz aber sieht in dieser Aussage eine entlarvende Übereinstimmung von Rudolf Steiners Denken mit dem des NS-Ideologen Alfred Rosenberg, denn die Worte Mysterien des Blutes seien seiner Blut- und Bodenmystik ja sehr ähnlich. Ein solches Missverstehen ist symptomatisch für die fachlichen und begrifflichen Mängel der beiden Kapitel zur Anthroposophie. Dass im letzten Abschnitt zu Rudolf Steiner allerdings zu lesen ist, dass er keine radikale völkische Rhetorik (S. 298) anwende, macht die Hilflosigkeit ihrer Argumentation umso deutlicher: Rudolf Steiner wird als Rassist eingestuft und scheint trotz gegenteiliger Ergebnisse der eigenen Arbeit als solcher erscheinen zu müssen.

In der Gralsthematik zählt der lebenspraktische Bezug des Einzelnen zu den und dem Anderen. Womit sich der pädagogische Wert von Wolframs Parzivâl im Deutschunterricht der elften Klasse noch einmal in Erinnerung ruft: An den Gral, an das Fragen und an sich selbst herangeführt, kann die Epoche für Schüler und Lehrer einen Schritt in die eigene Biografie und die eigenverantwortliche Zeitgenossenschaft bedeuten. Damit ist die waldorfpädagogische Auseinandersetzung mit der Gralsthematik, im Gegensatz zur Unterstellung von Sandra Franz, kein völkisch-nationalistisches Relikt, sondern ein Ringen um innere Freiheit.

Sandra Franz: Die Religion des Gral, Wochenschauverlag 2009, 608 S., 58 Euro