Nach den Regeln der Kochkunst

Albert Vinzens

Ein gutes Dutzend Aufsätze über die Bedeutung Rudolf Steiners für die Wissenschaften und das Leben in einem einzigen Buch versammelt – das ist eine fast so große Zumutung wie der Versuch, das Ganze in einer Rezension zu besprechen.

Im Geleitwort kommt Arthur Zajonc sofort zur Sache. Er fragt nach den Möglichkeiten eines integralen Wissenschaftsansatzes und erwähnt, dass er bei seiner eigenen Suche nach einer solchen Wissenschaft von Steiners »enormem Genius nachhaltig profitiert« habe. Er könne bei sich selber zwar nur von »bescheidenen Fortschritten als kontemplativer Wissenschaftler und spirituell Übender« sprechen, doch vielleicht ist es gerade Bescheidenheit, die spirituellen Wissenschaftlern gut zu Gesicht steht. Zajonc interessiert die Frage, wie der Einzelne sein Weltverständnis in der Auseinandersetzung mit dem Akademischen differenzieren und im Hinblick auf Rudolf Steiner erweitern kann. Was die eigene Suche betrifft, bekennt der amerikanische Quantenphysiker und Förderer eines weltweiten Bewusstseinswandels seine Verehrung Rudolf Steiner gegenüber – es ist eine Verehrung, die von Dialogbereitschaft und Weltoffenheit begleitet ist.

In den wenigsten der dreizehn Beiträge begegnet dem Leser Offenheit in diesem Sinne. Die übrigen Aufsätze gehen gewissermaßen immanent vor, indem sie mit hoher Wertschätzung Steiners Werk beleuchten und seine Bedeutung für die Wissenschaft betonen. Freiheitsphilosophie, Medizin, Physik, Rhythmusforschung, Waldorfpädagogik, Dreigliederung, alle diese Themen kommen substantiell zur Darstellung. Bekanntes aus der Anthroposophie wird souverän referiert. Das ist für anthroposophische Leser angenehm, für die Welt ist es vermutlich zu wenig. Im Bild gesprochen: Feine Gerichte werden nach den Regeln der Kochkunst auf bunt garnierten Tellern serviert. Wo nur bleibt der Blick über den Tellerrand? Wo wird da die Immanenz anthroposophischer Selbstbezüglichkeit zugunsten eines offenen Weltbezuges verlassen?

Wenn ein Aufsatz, um ein Beispiel zu nennen, mit der Behauptung beginnt, »für fertige Antworten keine Verwendung« zu haben, »wohl aber für jede Anregung zu existenziellen Fragen«, dann hat der Leser Grund zur Freude. Wenn dann gegen Ende des gleichen Aufsatzes der Hafen sicherer Erkenntnis angesteuert und die Ladung mit schlüssigen Antworten gelöscht wird, dürfte die Enttäuschung überwiegen.

Anders die folgenden Beiträge. Sie stellen für das Verständnis von Steiners Werk einen genealogischen Bezug zu Goethe her. Dadurch gewinnt die Frage an Tiefe, wie und wo Steiner als Wissenschaftler zu verorten sei. Eine solche Verortung dürfte schwieriger sein als vielfach angenommen. Rudolf Steiner hat sich bei der Erforschung des Unsichtbaren auf die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode berufen, doch einerseits ist es angesichts von Paradigmenwechseln innerhalb der neueren Wissenschaften, andererseits in Bezug auf Steiners esoterischen, letztendlich rosenkreuzerischen Hintergrund schwierig beziehungsweise unmöglich, von rein akademischer Seite her das Verhältnis zwischen Steiners Anthroposophie und den Wissenschaften exakt zu bestimmen. Angesichts dieser Schwierigkeit ist es eine hilfreiche Entscheidung, bei Goethe und dem Goetheanismus nachzufragen.

Jaap Sijmons verfolgt in seinem Beitrag die »Frage nach der Freiheit« bei Steiner und schafft Bezüge zu Kant, Fichte, Hegel und – Goethe. Sijmons bemerkt, »dass uns der Idealismus im Allgemeinen gründlich abhanden gekommen« sei. Was aber bleibt, wenn es statt geistvoller Ideenzusammenhänge laut Sijmons nur noch Historisierung, Formalisierung und Naturalisierung der Vernunft gibt? Was, wenn das dadurch entstandene Manko an Geistigkeit das eigene Denken erfasst? Sijmons bezieht dieses Problem nicht nur auf die abendländische Geschichte, sondern auch auf sein eigenes Denken. Vermutlich gerade deshalb gelingt es ihm, die an Goethe erarbeitete »phänomenologisch-dialektische Methode« Rudolf Steiners in einer Weise zu entwickeln, wie sich dies »in Handbüchern der Philosophie nicht findet«.

Bernd Rosslenbroich geht ähnlich vor, auch wenn sein Beitrag über Evolutionsfragen im 21. Jahrhundert ein anderes Gebiet umfasst. Er zeigt, wie ein Forscher, der die Qualität einer »echten Objekterkenntnis« anstrebt, zwingend auf die »Bedingtheit des eigenen Erkennens« aufmerksam wird. Dies heißt im Sinne Goethes, dass, wer »eine Erkenntnis des Objekts anstrebt, gleichzeitig zu einer Schulung des Subjekts« vordringt. Es entsteht eine Dynamik zwischen Objekt und Subjekt, die die Trennung der beiden Bezugspunkte durch das »sensible Zueinanderführen von Empirie und Theorie, von Wahrnehmung und Begriff« überwindet. Die von Goethe gelebte und von Steiner zur Methode ausgearbeitete Kunst, »sich immer wieder neu dem Objekt zu nähern«, verweist auf einen Perspektivenpluralismus, der einseitige wissenschaftliche Vorstellungen positiv erweitert. Auf diesem Hintergrund gelingen Rosslenbroich erhellende Ausführungen über die biologische Autonomie des Menschen.

Roland Halfen beschäftigt sich mit Rudolf Steiners Vortrag »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik«. Es werden Momente der Anlehnung (an Goethe), Ablehnung (von Hegel und Kant) und Selbstwerdung (in der Auseinandersetzung mit Schiller) in einer Weise diskutiert, die Steiners Definition von Ästhetik mit großer Bedeutung erfüllt: »Das Schöne ist nicht das sinnliche Scheinen der Idee, sondern ein Sinnliches, das so scheint wie Idee.« Diesem »Scheinen wie« haucht Halfen pralle Wirklichkeit ein, indem er entfaltet, was in der »Eigenschaft eines konkret sinnlich Wirklichen« erfahrbar wird. Zweck, Begriff, Idee, Wahrheit werden als konstituierende Momente ästhetischer Erfahrung fallengelassen. Der Blick in die Kunst der Gegenwart erhält dadurch eine Öffnung, die nicht nur für Künstler wie die von Halfen erwähnten James Turrell, Tony Cragg und Anish Kapoor, sondern auch für so schwer fassbare Figuren wie etwa Joseph Beuys oder John Cage erhellend sind. Halfen erwähnt die »besondere Leistungsfähigkeit« der Steinerschen Position. Die Leistungsfähigkeit weist sich in der vollen Anerkennung der Wirklichkeit aus und verhindert ein unbedachtes Pochen auf Wahrheiten und überalterten Ideen.

Der Band endet mit einem Beitrag zur Anthroposophie und ihren Gegnern. Lorenzo Ravagli teilt die Polemik gegen Rudolf Steiner in unterschiedliche Diskursfelder ein. Durch diese Vorgehensweise lässt sich ein Verständnis für mitunter extrem ablehnende Rezeptionsmodelle erringen, mit denen in der Öffentlichkeit gegen Steiner polemisiert wird. Ravagli gelingt eine radikal kritische, durchgängig die Schwebe haltende Umgehensweise auch mit Fundamentalgegnern der Anthroposophie.

Die Herausgeber betonen im Vorwort, dass die Autoren dieses Bandes »fast durchgängig erfahrene Hochschulwissenschaftler« seien. Das ist eine Art Qualitätsandrohung. Wir können die Worte aber auch so verstehen, dass der Leser höchste Ansprüche an die Autoren stellen darf. So sei denn der Wunsch erlaubt, dass heutige Hochschulwissenschaftler im Sinne Goethes, Steiners oder Zajoncs die Frage »Was ist Wissenschaft« auf dem Hintergrund ihres eigenen, für den Leser sichtbaren meditativen Wegs entfalten. Wer so an die Sache herangeht, verwandelt die Wissenschaft. Die Frage, wie eine spirituelle Wissenschaft die Welt verändere, wird falsch aufgefasst, wenn sie zur rein anthroposophischen Angelegenheit gemacht wird. Gerhard Kienle (er wird in diesem Band ausgiebig zitiert) hat unmissverständlich formuliert, was heute von spirituellen Wissenschaftlern verlangt werden muss, die nicht nur als Akademiker, sondern auch als Anthroposophen die Welt und das Leben der Menschen mitgestalten wollen: »Wenn wir die Kulmination der menschheitlichen Auseinandersetzungen zum Jahrhundertende wähnen und wollten nur die Menschen sammeln, die der Anthroposophie bedürfen, hat unser Blick nicht die zugängliche Weite. Es ist verhältnismäßig einfach, anthroposophische Menschen zu finden. Hierin liegt zugleich die ständige Versuchung begründet, sich selbst darzustellen, ohne an den großen Aufgaben der Menschheit gemessen zu werden.«

Peter Heusser/Johannes Weinzirl (Hrsg.): Rudolf Steiner. Seine Bedeutung für Wissenschaft und Leben heute, geb., 368 S., EUR 29,99, Schattauer Verlag, Stuttgart 2013

Buch bestellen