Philosophie und Anthroposophie. Zu einer Untersuchung Hartmut Traubs

Lorenzo Ravagli

Hartmut Traub, Dozent am Studienseminar Essen für das Lehramt an Gymnasien und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft, legte vor kurzem eine rund tausendseitige Monographie mit dem Haupttitel »Philosophie und Anthroposophie« vor. Sie setzt sich, wie der Untertitel sagt, »kritisch« mit der »Grundlegung« der »philosophischen Weltanschauung Rudolf Steiners« auseinander. Das Buch ist offenbar durch Forschungskolloquien zur »intellektuellen Anschauung« und »seelischen Beobachtung« angeregt worden, die ab 2006 an der Alanus Hochschule stattfanden. Die Untersuchung versteht sich als »Beitrag zur Steinerforschung«, als Pionierarbeit, weil sie »erstmals« in der Geschichte dieser Forschung Steiners »Erkenntnistheorie, Ethik, Anthropologie und Kosmologie«, besonders jedoch seine »kritische Polemik gegen andere Positionen« der Philosophie- und Theologiegeschichte einer »streng text- und kontextkritischen« Analyse unterziehe. Traub erhebt den Anspruch, gezeigt zu haben, wie sich die »Grundideen« der späteren Theosophie und Anthroposophie aus den frühen philosophischen Schriften Steiners entwickelt haben. Und er ist der Ansicht, dass diese »Theosophie« und »Anthroposophie« eher »philosophische als esoterische« Ursprünge hat. Traub versteht »Theosophie« und »Anthroposophie« Rudolf Steiners, auch insofern sie nach einer »existentiell vertiefenden Schulung und Erweiterung des menschlichen Geistes« streben, in erster Linie als »philosophische« Weltanschauung.

Man muss die begrifflichen Stichworte, die der Titel der Untersuchung aufzählt, etwas amplifizieren, um zu verstehen, worum es in dieser Arbeit geht. Nach Rudolf Steiners Selbstverständnis stellen seine philosophischen Werke, insbesondere seine Dissertation »Die Grundfrage der Erkenntnistheorie ...« und »Die Philosophie der Freiheit«, die »philosophische Grundlegung« der später von ihm entwickelten anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft dar. In einem 1918 verfassten Zusatz zur letzteren heißt es: »Von einer ... geistigen Wahrnehmungswelt sprechen eine Anzahl der von mir nach diesem Buche veröffentlichten Schriften. Diese ›Philosophie der Freiheit‹ ist die philosophische Grundlegung für diese späteren Schriften. Denn in diesem Buche wird versucht, zu zeigen, dass richtig verstandenes Denk-Erleben schon Geist-Erleben ist.«

Zwar lassen sich, so fährt Steiner fort, die Inhalte der späteren Schriften nicht durch »Schlussfolgerungen« »logisch« aus der »Philosophie der Freiheit« ableiten, aber das »lebendige Erfassen des intuitiven Denkens«, von dem in der »Philosophie der Freiheit« die Rede ist, wird zu einem »lebendigen Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt« führen. Aus diesen wenigen Sätzen lässt sich erahnen, was Steiner unter »philosophischer Grundlegung« verstanden hat. Da der Mensch im intuitiv erlebten Denken »bereits in eine geistige Welt als Wahrnehmender versetzt ist«, wird er in dem, was ihm innerhalb dieser Welt als Wahrnehmung entgegentritt »so wie die geistige Welt seines eigenen Denkens«, eine in sich gegründete »geistige Wahrnehmungswelt« erkennen. Die »Philosophie der Freiheit« dient nach Steiners Auffassung also dem Nachweis, dass das intuitive Denken des Menschen eine geistige Wahrnehmung, genauer gesagt, die Wahrnehmung seines eigenen, in Tätigkeit begriffenen Geistes ist und dass jede andere Art von geistiger Wahrnehmung, die ihm wie sein eigenes Denken entgegentritt, eine geistige, »ohne sinnliches Organ erfasste« Wahrnehmung darstellt. »Philosophisch« ist diese Grundlegung deswegen, weil sie sich lediglich der Beobachtungen und Begriffe bedient, die dem intuitiven Denken zugänglich sind, und »grundlegend« ist sie deswegen, weil sie den Nachweis führt, dass eine Erfahrung des Geistes ohne sinnliche Organe möglich ist, eine Erfahrung, die eine Wahrnehmung der geistigen Selbstbetätigung des Menschen ist. »Schlussfolgernd« ableiten lassen sich aber diese »anderen geistigen Wahrnehmungen« aus den philosophischen Erörterungen des Buches nicht, denn »was als Wahrnehmung auftritt, das muss der Mensch auf seinem Lebensweg schlechterdings erwarten.« Aber diese Erwartung ist nicht eitel, eben weil das intuitive Denken der Form nach bereits eine übersinnliche Wahrnehmung darstellt. Die Vorrede zur Neuausgabe von 1918 fügt zu diesen Gesichtspunkten den Gedanken der »Rechtfertigung« hinzu: »In diesem Buche ist erstrebt, eine Erkenntnis des Geistgebietes vor dem Eintritt in die geistige Erfahrung zu rechtfertigen. Und diese Rechtfertigung ist so unternommen, dass man wohl nirgends bei diesen Ausführungen schon auf die später von mir geltend gemachten Erfahrungen hinzuschielen braucht, um, was hier gesagt ist, annehmbar zu finden ...«

Aus diesen Sätzen Steiners dürfte deutlich geworden sein, was unter »philosophischer Grundlegung« und »Rechtfertigung« zu verstehen ist. Die »Philosophie der Freiheit« führt durch ihre philosophischen Erörterungen über das Erkennen und die Freiheit den Nachweis, dass der Mensch intuitiv denkend sein eigenes geistiges Wesen erfährt, und sie lässt es denkmöglich, plausibel, erscheinen, dass er auf die gleiche Art, wie er sein eigenes Denken erlebt, auch andere geistige Weltinhalte erleben kann. Es dürfte aber auch deutlich sein, was nicht darunter zu verstehen ist. Steiner war nicht der Auffassung, er habe eine philosophische Enzyklopädie geschrieben, die die Themen Erkenntnis und Freiheit im Kontext des philosophischen Fachdiskurses systematisch und erschöpfend abhandelt.

Im Hinblick auf diese »Grundlegung« zielt nun Traubs Untersuchung auf zweierlei: sie versucht zu zeigen, dass Steiners Nachweis einer intuitiven Erfahrung des Geistes philosophisch unzulänglich und nicht beweiskräftig ist, und sie versucht unter der Voraussetzung, dass dieser Nachweis misslungen ist, die Anthroposophie als »Geisteswissenschaft« auf eine Art von Transzendentalphilosophie zu reduzieren, deren wesentliche Inhalte aus den Systemen des deutschen Idealismus, insbesondere aus der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes und Immanuel Hermann Fichtes stammen.

Positiv ausgedrückt klingt dies – in Traubs eigenen Worten – wie folgt: »Entgegen der verbreiteten Überzeugung, dass Rudolf Steiner erst um die Jahrhundertwende sein theosophisch-anthroposophisches Welt- und Menschenbild zu formieren und auszugestalten beginnt, lassen sich dafür zweifelsfrei weit frühere Ursprünge nachweisen. Die Anfänge und Grundlagen der Theosophie und Anthroposophie Rudolf Steiners sind seine frühen enthusiastischen Studien der Werke Johann Gottlieb Fichtes und hier, neben den ›Einleitungsvorlesungen zur Wissenschaftslehre‹ (1813), vor allem dessen populärphilosophische Schriften, insbesondere die ›Anweisung zum seligen Leben‹ und die ›Bestimmung des Menschen‹.

Aus diesen Arbeiten hat Steiners Theosophie und Anthroposophie nicht nur ihre grundsätzliche methodische und inhaltliche Geistesrichtung empfangen, sondern auch ihre zentralen, insbesondere religionsphilosophischen Themen aufgesogen. Steiners ›asiatische Phase‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts war demnach nicht der initiale Ausgangspunkt für seine Theosophie und Anthroposophie, sondern lediglich ein episodisches Zwischenspiel auf dem Weg der Entwicklung einer deutlich euro-, man kann auch sagen, christozentrischen Weltanschauung. Und für diese liegen die elementaren Ursprünge vor allem in der esoterischen Deutung eines dominant johanneisch erschlossenen Christentums, wie es Steiner in Fichtes ›Anweisung‹ vorgefunden hat.« Zu den Themen, die Steiner aus Fichtes Schriften »aufgesogen« hat, gehören laut Traub die »Wiedergeburts- und Reinkarnationslehre«, das »unvergängliche Wesen des Ich«, die »Gegenwärtigkeit der übersinnlichen Welt und des ewigen Lebens« und die »geistigen Organe«, die diese Welt erschließen. Ihnen begegnete Steiner in den genannten Werken Fichtes, »die er lange vor seinem Studium der mystischen, esoterischen und indischen Schriften gelesen hat ...«

Mit anderen Worten: Traubs Untersuchung führt einen tausendseitigen Nachweis darüber, dass sowohl Steiners Philosophie als auch die Anthroposophie mit allen denkbaren Wurzeln und Fasern in der Philosophie des deutschen Idealismus verankert ist und dass die zuletzt von Helmut Zander weitschweifig erhobene Behauptung, die Anthroposophie sei ein Abklatsch der Adyar-Theosophie, offenbar auf einem grundlegenden Missverständnis beruht.

Aber dieser positive Befund hat auch eine negative Kehrseite: da die Grundlegung und die wesentlichen Inhalte der Anthroposophie als »Geisteswissenschaft« – das heißt, als esoterischer Erfahrungserkenntnis des Geistes und der Geister – bereits in Fichtes populärphilosophischen Abhandlungen enthalten sind, besteht kein Grund mehr, anzuerkennen, dass diese »Anthroposophie als Geisteswissenschaft« in irgendeiner nennenswerten Form über den Bewusstseins- oder Erkenntnismodus der »Philosophie der Freiheit«, der Dissertation Steiners oder des deutschen Idealismus hinausgeschritten wäre.

Dies zeigt sich deutlich in Traubs Auseinandersetzung mit Steiners Zusatz zur Neuauflage der »Philosophie der Freiheit«, der eingangs zitiert worden ist. Wenn nämlich Steiner 1918 schreibt, aus den Erörterungen der »Philosophie der Freiheit« ließen sich die Inhalte der späteren Geisteswissenschaft nicht »logisch schlussfolgernd« ableiten, dann bedeutet diese Aussage nach Traub nichts anderes, als die »späte Verabschiedung Steiners aus der argumentativen wissenschaftlichen Philosophie ... deren Verfahrensregeln er sich ... nur widerwillig ... unterworfen hatte.« Denn das Urteil Steiners über »die Unmöglichkeit, eine logische, schlussfolgernde Brücke zwischen den Ergebnissen seines frühen und späteren Denkens schlagen zu können«, betrifft laut Traub auch »die ›Philosophie der Freiheit‹, und zwar ... als Philosophie.« »Offensichtlich«, so fährt Traub fort, »war Steiner in dieser Argumentation nicht mehr ausreichend präsent, dass bereits das Schlusskapitel der ›Philosophie der Freiheit‹ den im Zusatz aus dem Jahr 1918 nur postulierten Zusammenhang zwischen erlebtem intuitivem Denken und der ›absoluten Wirklichkeit‹ nicht nur hergestellt, sondern auch in Ansätzen strukturiert und differenziert hatte. Das heißt, im Kapitel über ›die letzten Fragen‹ hatte Steiner den Übergang zu den ›höheren Welten‹ bereits vollzogen, der im späteren Zusatz zum Kapitel – mit Blick auf die esoterische Geisteswissenschaft – nur prospektiert und postuliert wird. Die Einbettung des intuitiven Denkens in die ›absolute Wirklichkeit‹, die die sinnliche, interpersonale und geistige Welt umfasst und durchdringt, die Integration des intuitiven Denkens in ›das göttliche Leben‹, in die ›Synthesis der Geisterwelt‹ und in ›ein Leben in Gott‹, das wären die Themen gewesen, über die Steiner im Zusammenhang mit seiner späteren Esoterik zumindest auch hätte nachdenken müssen, um die These zu erhärten, dass die ›Philosophie der Freiheit‹ die Grundlage der späteren Schriften bildet. Vielleicht wären Steiner dann die Möglichkeiten aufgegangen, die sich von einer argumentierenden philosophischen und nicht nur [Hervorhebung durch den Rezensenten] esoterisch schauenden und beschreibenden Vorgehendweise für seine theosophischen und anthroposophischen Projekte eröffnet hätten. Wodurch die ›Philosophie der Freiheit‹ dann nicht nur als schmale philosophische Grundlage für die spätere Esoterik, sondern als echtes philosophisches Hauptwerk Rudolf Steiners hätte gelten und weiterentwickelt werden können.«

Ganz richtig, könnte man Traub hier entgegnen, wenn denn Steiner bloß Philosoph hätte bleiben wollen. Aber die Wahrnehmung eines Walfischs lässt sich nicht aus dem Begriff des Säugetiers ableiten. Die Wahrnehmung des nachtodlichen Schicksals der geistigen Individualität lässt sich nicht aus dem philosophischen Begriff der Individualität ableiten. Denn, wie Steiner 1918 schreibt, »was als Wahrnehmung auftritt, das muss der Mensch auf seinem Lebensweg schlechterdings erwarten«. Wäre Steiner Philosoph geblieben, hätte es eine »Geistesforschung« nie gegeben. Im Grunde bezeichnet der systematische Ort, an dem Traub sich mit seiner Argumentation bewegt, das, was Steiner in esoterischer Sprache als »Schwelle der geistigen Welt« beschrieben hat. Wer diese Schwelle überschreitet, erlebt, wie die bisherigen Formen seines begrifflichen Denkens zerflattern wie »Blätter im Wind«, und er wird mit Wahrnehmungen konfrontiert, für die der Begriff eine Ergänzung »nach unten« darstellt, wie er für die sinnlichen Wahrnehmungen eine Ergänzung »nach oben« darstellt. Die Begriffe des philosophischen Denkens, auch diejenigen der »Philosophie der Freiheit«, erscheinen dieser Erfahrungsart als »herabgelähmte« lebendige Bildekräfte, deren Leben bei ihrem Auftauchen im denkenden Bewusstsein in die Untergründe des Leibes verschwindet., während ihr Bildinhalt ins Bewusstsein tritt. Traub überschreitet diese Schwelle nicht, weil er Philosoph bleiben will und daher muss er auch den gesamten Inhalt der Anthroposophie (Theosophie) in der Philosophie finden.

Traub würde diesen Argumenten, seiner Grundeinstellung gemäß entgegenhalten, sie seien eine Form der »retrospektiven Rekonstruktion«, eine durch Steiner selbst »fehlgeleitete« Form der Auseinandersetzung mit Steiner als Philosoph, die dessen philosophische Werke aus der Perspektive der späteren Theosophie und Anthroposophie interpretiert. Aber eine Interpretation Steiners, die den früheren gegen den späteren ausspielt und diesen auf jenen reduzieren will, widerspricht dessen späterem Selbstverständnis und dem tieferen, esoterischen Sinn seiner philosophischen Werke. Es widerspricht aber auch den Intentionen, die Steiner 1893/94 mit der »Philosophie der Freiheit« verfolgte. Diese Intentionen sind einem Brief an Rosa Mayreder vom November 1894 zu entnehmen, den Traub auszugsweise ebenfalls zitiert: »Ich lehre nicht«, schreibt Steiner im Hinblick auf die »Philosophie der Freiheit«, »ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Ich erzähle es so, wie ich es gelebt habe. Es ist alles in meinem Buche persönlich gemeint. Auch die Form der Gedanken. Eine lehrhafte Natur könnte die Sache erweitern. Ich vielleicht auch zu seiner Zeit. Zunächst wollte ich die Biographie einer sich zur Freiheit emporringenden Seele zeigen. Man kann da nichts tun für jene, welche mit einem über Klippen und Abgründe wollen. Man muss selbst sehen, darüberzukommen. Stehenzubleiben und erst anderen klarmachen: wie sie am leichtesten darüberkommen, dazu brennt im Innern zu sehr die Sehnsucht nach dem Ziele. Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich versucht, die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. Ich bin meinen gegangen, so gut ich konnte; hinterher habe ich diesen Weg beschrieben. Wie andere gehen sollen, dafür könnte ich vielleicht hinterher hundert Weisen finden. Zunächst wollte ich von diesen keine zu Papier bringen. Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet. Wenn man ans Ziel kommt, weiß man erst, dass man da ist. Vielleicht ist aber überhaupt die Zeit des Lehrens in Dingen, wie das meine, vorüber. Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen.«

Die »Biographie einer sich zur Freiheit emporringenden Seele«, »willkürlich« übersprungene Klippen, »Philosophie als Erlebnis des Einzelnen«, Gedanken, die »persönlich gemeint sind«: wie man sieht, ist das philosophische Selbstverständnis Steiners zur Zeit der Abfassung der »Philosophie der Freiheit« weit von einer enzyklopädisch-systematischen Auffassung der Philosophie entfernt, die eine »lehrhafte Natur« vielleicht von einer Abhandlung über die Freiheit erwarten würde. Von dieser »Philosophie als Erlebnis des Einzelnen« sprechen aber auch die Zusätze von 1918, die der »Philosophie der Freiheit« die Rolle einer «Grundlegung« und »Rechtfertigung« der Geisterkenntnis zuweisen. Denn diese Geisterkenntnis ist nur auf biographischen Wegen erreichbar, die mit äußerst dramatischen Wandlungen des ganzen Menschen verbunden sind. Philosophie als Seelenerlebnis, in dem Abgründe der Selbstvernichtung und Aufschwünge der inneren Wiedergeburt durchlebt werden, hat aber wenig mit einer Form von Philosophie zu tun, die ihre Themen »more geometrico« systematisch entwickelt. Es ist eine Art der Philosophie, die an den Mythos grenzt, die sich der Symbole bedienen muss, um die Dimensionen der Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, die sie erschließt. Historische Beispiele für diese Art des Philosophierens findet man im »Phaidros« oder im »Symposion« Platos, aber auch bei arabischen und persischen Neuplatonikern wie Ibn Arabi, Avicenna oder Suhrawardi. Diese Philosophie verbindet begriffliche Rationalität mit symbolischen Erzählungen von inneren Erfahrungen, die historische Systematiker der Mystik zuordnen würden. Es ist diese Philosophie der Erleuchtung, die Philosophie des Platonismus und Neuplatonismus, mit ihrer emanatistischen Kosmologie und ihrem gnostischen Verständnis des Erkennens, in deren esoterischer Tradition Steiner als Philosoph und Anthroposoph steht. Er knüpft damit an einen Strom der Überlieferung an, der in der italienischen Renaissance aus dem Schoss des Orient geboren wurde, und in vielen Verzweigungen bis ins neunzehnte Jahrhundert weiterfloss. Es handelt sich um eine Denk- und Erfahrungsströmung, welche die sinnliche Welt als symbolische Offenbarung des Ewigen auffasst. Sie betrachtet diese sinnliche Welt in ihren Urbildern, die die Erde wie ein archetypischer Ozean umgeben. Die wahrnehmbare Realität, der sie sich zuwendet, ist die von göttlichen Inspirationen und Intuitionen erfüllte imaginale Welt. Für sie ist der Kosmos eine hierarchische Ordnung, die sich in der symbolischen Ordnung des menschlichen Erkennens abbildet. Die Imaginationen, die sich dem geistigen Auge der Seele erschließen, sind zugleich eine Epiphanie der Schöpfermächte. Würde man sich vom ideellen und historischen Standpunkt dieser Philosophie aus mit Steiners philosophischer und anthroposophischer »Weltanschauung« auseinandersetzen, ergäben sich vollkommen andere Perspektiven auf den ideengeschichtlichen Zusammenhang, in dem Steiner verwurzelt ist. Diese ermöglichten auch seine Einordnung in die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts jenseits polemischer Diskurse. Hingewiesen sei auf die Synchronizität zwischen der Entdeckung der archetypischen Welt durch C.G. Jung und der wissenschaftlichen Erforschung des imaginativen Kosmos durch Steiner. Hingewiesen sei auch auf die traditionalistischen und perennialistischen Denkströmungen des 20. Jahrhunderts, die Denker wie René Guenon, Mircea Eliade, Gershom Scholem, Henry Corbin und Antoine Faivre einschließen und gegenwärtig von der akademischen Esoterikforschung untersucht werden.

Was der von Traub präferierte ideelle Reduktionismus unterschlägt, ist die Möglichkeit einer solchen esoterischen oder gnostischen Philosophie, die immer schon mehr ist, als bloß begriffliche Reflexion. Es ist in diesem Zusammenhang symptomatisch, dass Traub jene philosophischen Werke Steiners, in denen dieser esoterisch-platonische Grundzug seines Philosophierens wohl am deutlichsten zum Ausdruck kommt, die Schriften die Goethe und Goethes Erkenntnisart gewidmet sind, systematisch ausblendet. Weder die »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften«, noch die »Grundlinien einer Erkenntnistheorie« werden von ihm berücksichtigt, philosophische Werke, in denen der ontologische Aufbau der Welt durch unterschiedliche Erkenntnisorgane erschlossen wird, die der hierarchischen Struktur ihrer Schichten korrespondieren. Das Urteil Traubs, Goethe habe so gut wie keinerlei Einfluss auf Steiners philosophische Entwicklung und die spätere Anthroposophie genommen, ist weniger Folge einer biographischen Tiefenhermeneutik, als Ausdruck eines Rezeptionsmangels. Viele Missverständnisse, denen Traubs Deutung einschlägiger Philosopheme in den von ihm kritisierten Schriften unterliegt, wären gar nicht entstanden, wenn er diese Goetheschriften Steiners zur Kenntnis genommen hätte. So findet sich in einer dieser Schriften jene Theorie des Willens, deren Fehlen Traub der »Philosophie der Freiheit« zur Last legt. »Wille«, schreibt Steiner im zweiten Band dieser »Einleitungen« 1887, »ist die Idee selbst als Kraft aufgefasst.« Hier, ebenso wie in den »Grundlinien ...«, findet sich jene Theorie der Ideen, die Traub in der »Philosophie der Freiheit« vermisst. Und die Ausführungen Steiners über die »anschauende Urteilskraft« und die »innere Natur des Denkens« in den »Grundlinien ...« erörtern essentielle Aspekte seiner Auffassung der »intellektuellen Anschauung«, die er in der »Philosophie der Freiheit« nicht erneut darstellen musste. Hier, in den »Grundlinien ...« findet sich auch jene Aussage über das Denken als »Dolmetsch, der die Gebärden der Erfahrung deutet«, die den Kenner an den neuplatonischen Engel, den »Dolmetsch des göttlichen Schweigens« erinnert, den Verkündiger und Offenbarer des undurchdringlichen und unaussprechlichen Wesens der Gottheit, das sich »vollständig« in die Welt ausgegossen hat und dessen höchste Erscheinungsform dieses Denken ist.

Angesichts dieser Rezeptionsmängel erhebt sich die Frage, ob Traubs Auseinandersetzung mit der »Grundlegung« der philosophischen Weltanschauung Steiners wirklich so erschöpfend ist, wie ihre epische Breite glauben machen möchte.

Andererseits muss zugestanden werden, dass gerade diese epische Breite der Auseinandersetzung Traubs Werk zu einem Unikat, zu einer Premiere macht. Was auch immer ihre kritischen und konstruktiven Ergebnisse sein mögen, über die ohne Zweifel gestritten werden darf, sie löst auf jeden Fall die Behauptung ein, die Traub in seiner Einleitung aufstellt, »erstmals« in der Geschichte der Steinerforschung Steiners Erkenntnistheorie, Ethik, Anthropologie und Kosmologie, insbesondere jedoch seine »kritische Polemik gegen andere Positionen« der Philosophie- und Theologiegeschichte einer »streng text- und kontextkritischen« Analyse unterzogen zu haben. Und das ist zweifellos ein Verdienst. So kritisch man der notorischen Invarianz der Traubschen Kritik auch gegenüberstehen mag, die Steiner repetitiv zweierlei vorwirft: die von ihm kritisierten Philosophen nicht verstanden und sich zugleich ihre Ideen angeeignet zu haben, so sehr muss man anerkennen, dass hier erstmals überhaupt von einem nicht der anthroposophischen Tradition angehörenden Denker der Versuch unternommen wurde, Steiner als Philosophen und sein Denken im Kontext der Philosophiegeschichte zu würdigen.

Auch wenn die ständig wiederkehrenden Hinweise darauf, Steiner habe sich in seiner Auseinandersetzung mit den großen Denkern der Philosophiegeschichte unterhalb der Standards philosophischer Reflexion bewegt, etwas ermüdend wirken, setzt sich Traub mit Steiners Denken in einer Intensität und Extensität auseinander, wie kein Autor zuvor. Und auch wenn er tendenziell durch seine kritischen Urteile Steiner aus dem philosophischen Diskurs ausschließt, schließt er ihn durch die Reformulierungen seiner Theorien doch wieder in diesen ein und eröffnet damit die Möglichkeit, über Steiners Philosophie eine kritische und hoffentlich auch konstruktive Diskussion zu führen.

Eine letzte kritische Anmerkung betrifft die Prädominanz Fichtes bei Traubs ideenarchäologischen Tiefenbohrungen. Wie bereits oben angeklungen ist, vertritt Traub die Auffassung, Steiner habe nahezu sämtliche Bestandteile seiner Philosophie, die nicht verworfen werden müssten, aus den Werken Johann Gottlieb Fichtes geschöpft und nahezu sämtliche wesentlichen Ideen seiner späteren Anthroposophie aus den Werken Immanuel Hermann Fichtes. Diese Thesen mögen für einen Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirats der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft ehrenvoll sein, könnten aber auch als Folge einer Blickverengung aufgefasst werden, die darauf zurückzuführen ist, dass Fichte Vater und Sohn in der psychisch-biographischen Konstitution Traubs eine ähnliche Rolle spielen, wie Steiner im Selbstverständnis mancher Anthroposophen. Was die »Kontextualisierung« des philosophischen Denkens Steiners anbetrifft, so wünschte man sich weitere Monographien, für die die Geschichte der Philosophie nicht mit Fichte (Vater und Sohn) beginnt oder endet, sondern mindestens bis Plato zurück und ins 20. Jahrhundert fortgeht. Denn schließlich hat auch mit den deutschen Idealisten die Geschichte des abendländischen Denkens nicht begonnen, geschweige denn, dass sie mit ihnen endete.

Hartmut Traub, Philosophie und Anthroposophie; Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2011, 1040 S., 79 Euro.