Sternstunden

Heinrich Schirmer

Aber er wusste auch aus eigener Erfahrung, dass alles Wesentliche, alles Dauernde, das dem Künstler (und damit auch der Geschichte) gelingt, nur in den wenigen und seltenen Augenblicken der Inspiration geschieht. In seinen legendär gewordenen »Sternstunden der Menschheit« versammelte er deshalb zwölf historische Miniaturen, in denen im konkreten und kurzen Augenblick etwas Überzeitliches sich zusammenballte, das weit über den Tag hinaus eine Entscheidung für Jahrhunderte bewirkte und den Blick und Gang der Menschheit für immer veränderte.

Im neuesten Buch des Marburger Waldorfpädagogen Malte Schuchhardt hat Stefan Zweigs künstlerische Methode und dessen erkenntnisleitender Impuls eine zeitgemäße Anverwandlung gefunden. In vierzehn kurzen Abrissen, die einzelnen Kapitel sind in der Regel kaum über zehn Seiten lang, lässt der Autor kenntnisreich und kurzweilig dramatische Lebenssituationen aufleuchten, in denen wir unmittelbar die Werkstatt einzelner Dichter betreten. Schuchhardts stilistische Leistung ist eine gelungene Gratwanderung. An keiner Stelle wirkt er trocken belehrend, akademisch überzogen oder journalistisch anbiedernd. Als Leser ist man dankbar dafür. Wir können, um nur einige Beispiele zu nennen, noch einmal im Rückblick erleben, welche Bedeutung etwa die Straßburger Begegnung Goethes mit Herder hatte, die in dem jungen Studenten den Quell seiner dichterischen Inspiration erschloss (II. Kap.). Wir folgen bei der Lektüre erregt der einzigartigen Atmosphäre bei Schillers Uraufführung seiner »Räuber« (IV. Kap.). Schuchhardt schildert bisweilen mit ganz wenigen und treffenden Worten an klug ausgewählten Beispielen die Entstehung von Kleists »Zerbrochnem Krug« (VII. Kapitel), die Konzeption von Büchners »Dantons Tod« (IX. Kap.), Kafkas erste Begegnung mit seinem Lebensmenschen Max Brod (X. Kap.) oder die auf wenige Tage zusammengedrängte Niederschrift von Wolfgang Borcherts Drama »Draußen vor der Tür«.

Man muss als Autor eines Buches auch ein Händchen für die Auswahl der Zitate haben können, die das jeweils Entscheidende im Originalton belegen, ergänzen und illustrieren. Für den erfahrenen Didaktiker Schuchhardt ist das kein Problem. Niemals wird ein Zitat herangezogen, das entbehrlich gewesen wäre, nie ein Hinweis gegeben, der nicht auch dem, der sich mit der Materie auszukennen glaubt, noch etwas Unerwartetes böte. Im abschließenden Rückblick-Kapitel fasst der Autor noch einmal das Gemeinsame aller verschiedenartigen »Sternstunden« zusammen. Es sei die fest umrissene Gestalt, die in ihrem zeitlichen Spielraum von Stunden, Tagen oder wenigen Monaten plötzlich und gültig sichtbar werde. Und es sei die Gewissheit, dass die Zeugungsmomente eben nicht aus eigener Kraft herbeigeführt werden könnten. Etwas Schicksalhaftes, dem eigenen Zugriff Entzogenes kommt hinzu. Der im Wort Sternstunde liegende Hinweis auf die Sternenwelt deutet darauf hin (S. 147). Besonders hilfreich für Lehrer und Eltern sind die Pädagogischen Aspekte, die der durch viele Jahre mit der Dichtung vertraute Autor anspricht. Malte Schuchhardts biografische und literarische Miniaturen können dem Lehrenden tatsächlich Beispiele für ein strukturiertes und fokussiertes Erzählen geben. Dadurch könnte der Literaturunterricht der Oberstufe zu einer geglückten Begegnung zwischen der Dichtung und dem jungen Menschen werden. Es könnte sich manche womöglich quälende und stets wiederholende Deutschstunde, in der sich scheinbar nur wenig ereignet, zu einer Sternstunde erhellen, die für kurze Zeit etwas von dem durch die Dichtung aufleuchten lässt, was dem Schüler später eine innere Orientierung werden kann. Man wird das schmale und bis in die äußere Gestaltung ansprechende und sorgfältig lektorierte Bändchen als Lehrer gewiss in einem Zug lesen wollen und sich bereichert fühlen. Eine Sternstunde!

Malte Schuchhardt, Sternstunden der deutschen Literatur von Goethe bis Kafka, edition waldorf, Stuttgart 2014, 160 Seiten, 18,– Euro