Was ist das Ich?

Griet Hellinckx

Aus dem letzten Kapitel über die »Wissenschaft des Ich« von Wolf-Ulrich Klünker spricht vor allem der Akademiker. Er skizziert eine Entwicklung dieser Wissenschaft. Ausgehend von Delphi als antiker Mysterienstätte weist er weniger auf bekannte Psychologen, sondern auf eine Reihe von altehrwürdigen Philosophen hin. Johannes Reiner ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis. In dem Kapitel »Lebensstruktur des Ich« sowie in einem weiteren über die »Psychotherapie des Ich« macht er erlebbar, wie ausgehend von den drei Bewusstseinszuständen Wachen, Schlafen und »immerwährender« Existenz sich neue Beobachtungs-, Erkenntnis- und Übmöglichkeiten eröffnen, die in der konkreten Lebensführung und in der psychotherapeutischen Arbeit fruchtbar werden können. Er bringt diese Daseinszustände in einen Zusammenhang mit Begriffen wie Erden-Ich, höherem Ich und ewigem Ich. Zur Beleuchtung möglicher Grenzerfahrungen benutzt er Platos Höhlengleichnis. Zur Anregung zum Erreichen innerer Sicherheit verweist er auf die sogenannten sechs Nebenübungen Steiners und die Tagesrückschau.

Roland Wiese ist Sozialtherapeut und Leiter einer sozialpsychiatrischen Einrichtung. Er bespricht die Ansätze, die man im Umgang mit Steiners Ausführungen in dessen Heilpädagogischem Kurs gewinnen kann. Aus dem Vorgeburtlichen wirkt der Impuls des Ich, das sich durch die Gestaltung des Leibes mit der Welt verbindet. Wenn ein Therapeut an diesen Ich-Prozess anknüpfen kann, können das Weltinteresse sowie eine Stärkung der Willenskräfte Ausgangspunkte für Heilung und Selbstentwicklung werden. Der Autor weist ebenfalls daraufhin, wie im Meditieren von Steiners Leitsätzen 11 bis 16 (GA 26) die Möglichkeit liegt, das Alltagsbewusstsein zu weiten und die geistige Eigenbewegung und Tätigkeit des Ich anzuregen. Im Beitrag von Maria Tolksdorf über »Veränderungen des Ich« wird erlebbar, wie sie als erfahrene Kinder- und Jugendpsychotherapeutin durch ihre Haltung der Hinwendung und achtsamen Aufmerksamkeit einen Raum schafft, in dem junge Menschen sich wahrgenommen fühlen und somit Auswege aus einer inneren Not finden können. Die Beiträge sind keine leichte Kost, aber sie setzen sich auf anregende Art und Weise mit Fragen auseinander, die eigentlich jeden Menschen angehen. Wenn man alle gelesen hat, könnte man von vorne anfangen, weil es das eigene, innere Gespräch weiter vertiefen würde. In einem nächsten Schritt wäre ich gerne Zeuge eines Austausches dieser Autoren mit Menschen, die nicht-anthroposophische, neue Ansätze verfolgen, die eine ähnliche Sprengkraft besitzen.

Wolf-Ulrich Klünker, Johannes Reiner, Maria Tolksdorf, Roland Wiese: Psychologie des Ich: Anthroposophie, Psychotherapie, brosch., 176 S., EUR 22,–, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2016