Weit mehr als Erinnerungen

Dietrich Esterl

Hans Büchenbacher war in der Gründungs- und Konfliktgeschichte der Anthroposophischen Gesellschaft recht bekannt. Seit 1910 folgte er Rudolf Steiner, wurde in der Dreigliederungszeit als Redner von ihm gelobt, 1920 sein esoterischer Schüler und blieb ihm zeitlebens »mit innigster Leidenschaft« verbunden. Sein Lebensthema war die Realisierung der »Philosophie der Freiheit« und ihre Verbindung mit der Christologie Steiners. Er gehörte zu dem Jugendkreis um Ernst Lehrs und zum Vorstand der Freien Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. In den internen Konflikten versuchte er zu vermitteln. Einschneidend waren dann seine Erfahrungen als »Halbjude« mit den ambivalenten Reaktionen seiner »Freunde« auf den Nationalsozialismus. Er emigrierte 1935 in die Schweiz, zog sich zurück auf seine Tätigkeit als  Vortragsredner und Lehrender. Erst in den 1970er Jahren diktierte der über Achtzigjährige, von Freunden gebeten, seine Erinnerungen. Sie blieben Privatsache, Archivmaterial. Sie sind Ausdruck tiefer Verletzung, Resignation, aber auch der Treue zur Anthroposophie Steiners.

Büchenbachers eigener Text umfasst 70 Seiten, davon fast die Hälfte Anmerkungen des Herausgebers. Auf den folgenden 410 Seiten der »Anhänge« des Buches geht es dann aber um weit mehr als um eine Biographie. Die von einem Anthroposophen in besonderer Weise als »Opfer« erlebte Wirkung des Antisemitismus wird hier unter die Lupe genommen. Damit schließt Martins an seine 2012 erschienene Arbeit zur Frage des Rassismus im Werk Steiners an, die dessen Intentionen und Wirkungen seit den 60er Jahren im allgemeinen Bewusstsein der Gegenwart wie eine Erblast verfolgen.

In der Einleitung zu den Anhängen dokumentiert Martins die Forschungsgeschichte zu Büchenbachers Wirken. Sie wird ergänzt durch eine ausführliche Darstellung seines Lebens als Philosoph und Anthroposoph.

Die eigentliche Bedeutung des Buches liegt in der Untersuchung der zeitgeschichtlichen Hintergründe und Verflechtungen, die für ein wirkliches Verständnis nicht nur der Entwicklung der anthroposophischen Bewegung, sondern auch für das Lebenswerk Rudolf Steiners unabdingbar sind. Die wissenschaftliche Diskussion heute basiert auf einer Vielzahl von Publikationen wie die »Standardwerke« von H. Zander. Sie verschärfen die Diskrepanz zwischen der realen weltweiten Kulturwirksamkeit der Anthroposophie und den Fragwürdigkeiten des Umgangs mit der eigenen Geschichte.

Fragen, nur abgewehrt oder übergangen,  bleiben bestehen. Antworten können unbequem und schmerzvoll sein, aber auch befreiend und anregend wirken. Ansgar Martins Arbeit ist ein Beitrag zur Klärung. Die notwendige Diskussion kann im Rahmen dieser Besprechung nur empfohlen werden.

Ansgar Martins: Hans Büchenbacher - Erinnerungen 1933-1949.  Zugleich eine Studie zur Geschichte der  Anthroposophie im Nationalsozialismus – Mit Kommentaren und fünf Anhängen. Frankfurt/M 2014, 480 Seiten,