Wenn das Ich zum Du wird – die Kunst der Kinderbesprechung

Ulrich Kaiser

Die erfahrene Klassenlehrerin Anna Seydel hat nach vielen Jahren der Erprobung eine gehaltvolle Schrift vorgelegt, die einen besonderen Zugang zur Individualität von Kindern und Jugendlichen eröffnet. Sie orientiert sich an den »Kinderkonferenzen« oder »Kinderbesprechungen« der Waldorfschulen: der Kreis der Erziehenden und Unterrichtenden bemüht sich gemeinsam in geregelten Schritten um die Erkenntnis der Besonderheit eines Kindes, damit die pädagogische Beziehung zu ihm verbessert werden kann.

Durch zwei Eigenschaften setzt das Buch besondere Maßstäbe. Zum einen ist es praktisch orientiert und bezieht vielfältig Erfahrungen aus Arbeitsprozessen und Beispiele besonderer Kinder mit ein. Dabei ist es so offen und beweglich gehalten, dass wir es weniger mit Ratschlägen oder Verfahrensschritten als mit Seelenanregungen zu tun haben, die subtile soziale und persönliche Erkenntnisprozesse in Gang setzen. Zum anderen schildert es konkret, erfahrungsgesättigt und differenziert die geistigen Dimension der Kindererkenntnis und Zusammenarbeit unter Kollegen. Der methodische Kern des Buches liegt in der Art, wie die Autorin die von Rudolf Steiner in seiner »Allgemeinen Menschenkunde« dargestellten Erkenntnisstufen der Imagination, Inspiration und Intuition ernst nimmt. Keine fernen Utopien der Erkenntnis sind das, sondern handhabbare Vollzüge des tieferen Verständnisses von Kindern.

Dem Büchlein ist weite Verbreitung innerhalb der Kollegien von Waldorfschulen zu wünschen, und letzteren der Mut und die feinsinnige Bescheidenheit, diese Art der Kinder­erkenntnis praktisch zu erkunden.

Anna Seydel: Ich bin Du. Kindererkenntnis aus pädagogischer Verantwortung, 135 S., brosch. EUR 17,–. edition waldorf, Stuttgart 2009