Wiedererwachen des Christusbewusstseins

Katia Hornemann

Wer aktuelle und geschichtliche Zeiterscheinungen nicht nur als gegebene Tatsachen hinnehmen kann, sondern hinterfragt und hinter den Symptomen nach Kräften sucht, die unsere Zeitgeschicke lenken wollen, der findet in Neiders Buch aufrüttelndes Material. Rund hundert Jahre nach der Begründung der anthroposophischen Gesellschaft im Dezember 1912 und durch einschlägige Vorträge aus dieser Zeit werden hier Fragen aufgeworfen und Zusammenhänge hergestellt, die uns aufrufen, aufzuwachen, Fragen zu entwickeln und diese deutlich zu formulieren.

Andreas Neider untersucht in seiner Abhandlung den Zusammenhang »zwischen den bei der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft auftretenden Motiven der Bhagavad Gita, den Darstellungen der Wesenheit Michaels und den Ausführungen zum Fünften Evangelium« und sieht bei allen gemeinsam einen Kriegsschauplatz. In der Bhagavad Gita ist es das Gespräch zwischen dem Königssohn Arunja und seinem Wagenlenker, welches aber nicht nur äußerlich den bevorstehenden Kriegszug zum Thema hat, sondern als Darstellung des Inneren des Protagonisten steht; Kämpfe der Seele werden hier ausgefochten und bezeichnen eine Epochenschwelle. Michaels Wirken im 20. Jahrhundert knüpft daran an, aber nicht mehr als Individualisierung des Menschenwesens, sondern im Sinne der Christuswesenheit. Ein neues und zugleich apokalyptisches Motiv, das 1913 durch Steiners Geistesforschung hinzukommt, ist das zweite Sterben der Christuswesenheit  – es ist kein physischer Tod, sondern ein Bewusstseinstod, der dadurch geschehen musste, dass sich die Menschheit seit dem 16. Jahrhundert immer mehr dem Irdischen zuwendete und die Menschen durch die Pforte des Todes das Resultat des Materialismus trugen. Christus opferte sein Bewusstsein, damit die Menschen des 20. Jahrhunderts es wieder auferstehen lassen können. Dies ist die Mission Michaels, und im Fünften Evangelium erkennt Neider Steiners Ziel, die Auferstehung des Christus in der ätherischen Welt herbeizuführen. »Was sich 1913, gerade noch rechtzeitig vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in Rudolf Steiner und den ihn umgebenden und mit ihm arbeitenden Menschen vollzieht, ist der Beginn des Wiedererwachens des Christusbewusstseins«.

In der weiteren Untersuchung zeigt Neider eindringlich die Notwendigkeit des einzelnen heutigen Menschen, den Materialismus zu überwinden, da sonst das Wirken der Widersachermächte die Ideale der Brüderlichkeit, der Menschenbegegnung und der Geisterkenntnis in ihre materialistischen Gegenbilder umwandeln wird. Michael hat uns Menschen die Fähigkeit verliehen, dies zu erkennen und aus Freiheit zu ergreifen.

Andreas Neider: Michael und die Apokalypse des 20. Jahrhunderts. Das Jahr 1913 im Lebensgang Rudolf Steiners, geb., 224 S., EUR 16,90, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2013